08 März 2022

Tag 22: Das Gute Leben

Ich bin eine Alchemistin der Worte, bereit, diese Worte hiermit in die Welt zu tragen. Ich reiche sie dar in verdichteter Form, als hinterlassene Haut.[1] Ich nahm meine gesamte Erfahrung und liess sie gären, bis nur noch Schwärze um mich war. Ich brannte aus, bis allein das Silber von Asche übrig blieb. Und ich verflüchtigte und zog daraus Bilder aus Gold, welche wahr sind nur als Bilder. Ich schreibe nicht Worte um der Worte willen. Ich schreibe, um Bilder in Worte zu prägen. Ich schreibe sie auf für diejenigen, die hören sollen, dass da draussen eine Melodie auf sie wartet, und bin dabei nur ein zeitweises Gefäss für etwas, das von Mensch zu Mensch wandert. Ein einzelnes Glied in einer langen Kette. Eine Fackelträgerin im ewigen Staffellauf.

Als ich noch Grosses wirken wollte, hatte es in meinem Gefäss keinen Platz für diese schlichte Wahrheit. Es war zu voll mit den Insignien eines stolzen Lebens. Als ich mein Gefäss endlich leerte, um den Inhalt zu besehen, fand ich darin: Ehrgeiz, und Streben nach Ruhm. Not, und Mangel an Fülle. Angst, und fehlende Bereitschaft. Eitelkeit, und launige Missgunst. Sowie Hass, und selbstgerechten Zorn. Aber im Staffellauf liegt die Betonung auf Staffel. Wenn wir an jemand anderen die Flamme der Inspiration weiter geben, auf dass dessen Licht hell aufleuchtet, um sodann weiter in die Welt getragen zu werden: dann ist alles gewonnen. Ich folge nun meiner lautlosen Melodie, und in ihr fliessen mir die Dinge zu, die ich in meine Form bringen muss. Es ist das Möglichste, was ich tun kann, um meine tiefe Ehrfurcht vor dem Leben in all seinen Formen zu bezeugen.

Wisse, ich trage nicht den Stein der Weisen für Dich. Nach diesem musst Du selbst in Deinem Inneren schürfen. Ich führe Dich lediglich dorthin, wo Du vielleicht erkennst, dass Du jetzt für den Absprung bereit und gewappnet bist. Den Absprung aus dem Lebenssinn, wie Du ihn bisher kanntest. War Dein Dasein bislang ein hohles Fass, bodenlos, ein Gefäss ohne Raum für beständigen Wert, musst Du vielleicht noch bevor Du zum Alchemisten wirst, zum Zimmermann werden, oder zur Töpferin. Um das Gefäss zu erschaffen für Deine eigene Alchemie der Dinge, jenseits von dem, was Du für gut und böse hieltest. Das Gute Leben findet Dich dort, wo Du das Echte in Dich treten lässt und alles Falsche ablegst, wie alte, überkommene Kleider.

Alle neuen Kleider des Kaisers konnten nicht verbergen, was darunter lag. Entscheide nun selbst für Dich, was unter Deiner Hülle zum Vorschein kommen soll. Und dann: lass es scheinen. 



[1] «Wild things leave skins behind them, they leave clean skins and teeth and white bones behind them, and these are the tokens passed from one to another, so that the fugitive kind can always follow their kind.» Tennessee Williams, Orpheus Descending, New York 1958

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