06 März 2022

Tag 21: Morgenrot

Jemand sagte einmal, dass in der vollkommenen Bejahung des notwendigen Geschicks die Formel für menschliche Grösse liege.[1] Ein anderer sagte, dass angesichts des Absurden in der Welt die einzige Hoffnung in hoffnungsloser Lage darin liege, das Absurde anzunehmen und sich darin zur Freiheit hin zu verwirklichen.[2] 

Ich kann Dir nicht sagen, wie es sich in Deinem Leben verhält, mit Deinem Geschick und an Deinem Felsen. Ich weiss nicht, welchen Stein Du den Abhang hinaufrollst, auch nicht, was Dir dabei widerfahren ist. Und was Du alles auf Deiner bisherigen Reise verloren oder gewonnen hast. Ich weiss nicht, was es Dich täglich kostet, Deinen Stein am Rollen zu halten. Überhaupt: in Bewegung zu bleiben. Und ich weiss auch nicht, wieviel Sonne Dir beschieden war und wieviel Regen. Gottes Wege sind unergründlich, und was wem nach welchem Mass bemessen wird, entzieht sich gänzlich unserem menschlichen Verstand. Aber eines weiss ich: jedes menschliche Herz bricht auf dieselbe Weise, und niemand kommt ganz und gar ungebrochen davon. Wenn es geschieht, dass Dein Herz bricht, wisse: Du bist verbunden und nicht allein. Schmerz, noch vor der Liebe, ist was uns Menschen alle eint. In unserem Schmerz werden wir alle gleich, vor Gott und der Welt. Bevor wir uns in Liebe erkennen, erkennen wir einander im Leid. 

An dem Punkt, an dem ich an meinem Abhang stehe, kann ich Dir nicht sagen, ob Sisyphos glücklich ist. Ob dies das Ziel ist, dem wir alle entgegen streben. Aber ich weiss, dass unser Geschick in der Tat uns allein gehört, ebenso wie unser Fels. Ich weiss, dass unser Stein noch immer rollt, obschon vielleicht noch durch die dunkle Nacht. Doch jede Nacht findet ein Ende, wenn sich nach langen bangen Stunden ein Silberstreif am Horizont abzeichnet. Ein neues Morgenrot. Vielleicht ist es nicht das Ziel unserer Leben, Glück zu finden, sondern alles zu schöpfen und alles zu sein, was dieses Leben in der unermesslichen Fülle unseres Liebens und Leidens an uns heranträgt. Jede Erfahrung, jedes Gefühl. 

Am Ende des Tages wartet dann womöglich nicht das Glück in unserer Hütte. Aber wenn wir alles bejaht haben, was an uns herangetragen wurde, wenn wir es bis zur Neige erfahren, gefühlt und gelebt haben: dann wartet womöglich Frieden auf uns. Dort, am Ende des Tunnels. Dann, am Ende der Nacht. 



[1] «Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen –, sondern es lieben.» Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. Wie man wird, was man ist. Entstanden 1888–89. Erstdruck: Leipzig 1908

[2] «Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. [...] Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verachtenswert findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage. In diesem besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet, betrachtet Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, die Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, vereint unter dem Blick seiner Erinnerung und bald besiegelt durch den Tod. Derart überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs. Noch rollt der Stein. […] Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.» Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Reinbek 2004. S. 159f.

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