26 Februar 2022

Tag 19: Licht

Wenn Du lang genug in der Finsternis gewandelt bist, trittst Du daraus gefestigt hervor. Sofern Du den Ausweg findest und Dich nicht zu sehr in die Dunkelheit verliebst. Deine Höllenkreise haben Dich stark gemacht, indem sie Dich Zerbrechlichkeit gelehrt haben. Du gingst als Ganzes hinein und kamst zersplittert hinaus. Zersplittert, aber ungebrochen; zerbrochen, aber unkaputtbar. Jetzt musst Du lernen, gleich einem Prisma das Licht zu bündeln und zu brechen, und daraus Kraft zu schöpfen. Stärke und Kraft sind nicht dasselbe.

Nun bist Du kein gleichseitiges Dreieck, kein gleichmässiger Würfel. Du eignest Dich nicht für Totalreflexion, und für jede Art von Polarisation brauchst Du ein Gegenstück. Aber Du nimmst Licht auf, brichst es und gibst es weiter. Wir alle brechen das Licht auf ganz unterschiedliche Weise, darin liegt die Schönheit unserer Vielfalt. Jeder Strahl fällt auf einen anderen Teil unserer geteilten Erfahrung, und erhellt ein anderes Stück. Wir brauchen einander, um das ganze Bild zu sehen. Und wir brauchen das Licht der anderen, wenn unser eigenes eine Zeit lang nicht brechen will.

Als menschliche Wesen schöpfen wir aus beidem: aus dem Wissen um die Sterblichkeit unserer Körper, und aus der Ahnung der Unsterblichkeit unserer Seelen. Wir ziehen Stärke daraus, dass wir unkaputtbar sind ungeachtet aller Widrigkeiten, die das Leben an uns heranträgt, und Kraft daraus, dass wir eines Tages zweifellos von dieser Erde gehen werden. Beides gehört untrennbar zusammen, wie das Eine und das Nichts. Hätten wir unser Ende nicht eingebrannt vor Augen, wir würden nicht danach streben, unser Schönstes aus diesem Dasein zu schöpfen. Alle irdische Schönheit existiert nur vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit. Und wenn wir also endlich sind, wie alles in dieser Welt der Materie: weshalb bringen wir dann zu viel kostbare Zeit mit Unwichtigem, Unwesentlichen, Unschönen zu? Es zieht uns deshalb zum Schönen, weil das Schöne für uns ein Markstein hin zum Guten und Wahren ist.

Nur erkennen wir irgendwann, dass uns das Gute und das Wahre nicht ohne Kehrseite zugänglich ist. Schliessen wir selbige aus, ist es so, als würden wir uns ans Leben hängen, ohne je wirklich zu leben. Die Schönsten von uns sind die, die das Leben gleich einem Kaleidoskop durch und durch geschüttelt und tausendfach zersplittert hat. Ihr Licht bricht sich fortan myriadenfach. Und ihr Leuchten erhellt die Welt. 

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