29 März 2013

Das Ende der Ideologien II


So geht das Zeitalter der nackten Vernunft kleinlauter zu Ende, als es begonnen hatte. Die erst vor wenigen Jahrhunderten aufgekeimte und dann lauthals verkündete Hoffnung, der Mensch sei mit Hilfe seines Verstandes und rationaler Entscheidungen in der Lage, Kriege und Elend, Not und Leid, sogar seine Ängste und Krankheiten zu überwinden, hat sich nicht erfüllt. Und glücklicher sind die Menschen auch nicht geworden, geschweige denn zuversichtlicher. Die Experten der WHO prognostizieren für die kommenden Jahre einen dramatischen Anstieg von Depressionen und Angst-bedingten psychosomatischen Erkrankungen in den hochentwickelten Industriestaaten. Ein Mangel an Wissen kann die Ursache dafür nicht sein. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte war der Zuwachs an neuen Erkenntnissen so gross wie heute. Nie zuvor war Wissen in dieser Menge für so viele Menschen verfügbar. Und noch nie gab es so viele technische Möglichkeiten, sich zu informieren, Wissen untereinander auszutauschen und miteinander in Kontakt zu treten. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in den hochentwickelten Industriestaaten leidet auch nicht an einem Mangel an materiellen Gütern. Von Hunger und Armut sind nur wenige bedroht. Obwohl die ärztliche Kunst in diesen Ländern in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht hat und die medizinische Versorgung immer besser geworden ist, steigt die Zahl körperlich kranker und seelisch leidender Menschen ständig weiter an.
Irgend etwas stimmt nicht. Irgendwie sind wir auf unserer Suche nach einem besseren Leben in eine Sackgasse geraten. Genau das, was manche schon seit längerem geahnt oder gar prophezeit haben, scheint jetzt eingetreten zu sein: Der nackte Verstand, mit dem wir bisher versucht haben, besser voranzukommen, hat uns offenbar auf einen fatalen Irrweg geführt. Mit Hilfe unseres rationalen Denkens ist es uns zwar gelungen, die grössten Bauwerke zu errichten, die es jemals auf der Erde gab, alle nur denkbaren technischen Hilfsmittel zur Erleichterung des Lebens zu erfinden, sogar auf den Mond zu fliegen und ein erdumspannendes Kommunikations- und Informationsnetz aufzubauen. Aber die Probleme, die uns das Leben und vor allem unser Zusammenleben bereitet, sind in den letzten Jahren eher grösser als geringer geworden.   
Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten


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