30 März 2013

Das Ende der Ideologien III


So stellt sich - erstmals seit dem Beginn der Aufklärung - wieder die Frage, ob der Mensch wirklich gut beraten ist, wenn er sich bei seinen Entscheidungen allein auf seinen Verstand und seine Fähigkeit zum rationalen Denken verlässt. Die Antwort auf diese Frage ist einfach und nach allem, was wir in den letzten Jahren an neuen Erkenntnissen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in Erfahrung gebracht haben, paradoxerweise sogar mit wissenschaftlichen Verfahren - also durch den Einsatz von Verstand und rationalem Denken - beweisbar geworden: Das Denken allein ist kein geeignetes Instrument, um sich damit in der Welt zurechtzufinden. Im Gegenteil. Je komplexer die mit Hilfe dieser Ratio gestaltete Lebenswelt wird, je stärker sich das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten des Menschen erweitert, desto mehr versagt das rationale Denken, wenn es darum geht, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und sinnvolle, d.h. das eigene Überleben sichernde, Weiterentwicklung ermöglichende Entscheidungen zu treffen.
So geht das Zeitalter der Rationalität mit einer bemerkenswerten Erkenntnis zu Ende: Denken können wir, was wir wollen. Sogar Handeln können wir - zumindest eine Zeitlang - nach unserem eigenen Gutdünken. Aber um glücklich und zufrieden, mutig und zuversichtlich leben zu können, müssen wir in der Lage sein, etwas zu empfinden. Wir müssten also die Intelligenz und Kraft unserer Gefühle wieder erkennen, schätzen und nutzen lernen. Nur so könnten wir einen Ausweg aus dem Irrsinn unserer gegenwärtigen Lebenswelt finden, in den uns der Einsatz des nackten Verstands geführt hat. Wir müssten versuchen, die verloren gegangene Einheit von Denken, Fühlen und Handeln, von Rationalität und Emotionalität, von Geist, Seele und Körper wiederzufinden. Sonst laufen wir Gefahr, uns selbst zu verlieren.
Wir werden also Abschied nehmen müssen von der noch aus dem Maschinenzeitalter stammenden Idee, der Mensch sei zerleg- und reparierbar wie ein Auto. Wir werden auch Abschied nehmen müssen von der jahrhundertelangen Vorstellung, dass unser Denken von unserem Fühlen folgenlos getrennt und als separate Entität betrachtet werden könnte. Und wir werden auch gleich wieder Abschied nehmen müssen von der gegenwärtig noch mit viel Emphase von manchen Hirnforschern propagierten Vorstellung, man müsse nur das Gehirn eines Menschen hinreichend gut analysieren, um zu verstehen, was er denkt, wie er fühlt und weshalb er so handelt, wie er es tut. Sicher war in der Vergangenheit vieles von dem, was Menschen geschaffen oder angerichtet haben, nur deshalb zu leisten, weil sie diese sonderbare Kunst, ihr Denken von ihrem Fühlen abzutrennen, so gut erlernt hatten, oder besser: weil sie so gut dazu gezwungen wurden. Aber dieser Umstand macht nur allzu deutlich, dass es da noch eine zweite, zumindest ebenso fatale wie falsche Vorstellung gibt, von der die Menschen des nun auslaufenden Zeitalters zumindest in der westlichen Welt ebenso fest überzeugt waren: dass all das, was im Gehirn eines einzelnen Menschen vorgeht, losgelöst von all dem betrachtet, analysiert und verstanden werden könne, was in den Gehirnen all jener anderen Menschen passiert, bei denen er aufwächst, mit denen er in eine Beziehung tritt, die er braucht und die ihn brauchen, um gemeinsam über sich hinauswachsen zu können. Wir müssten also sorgfältiger darauf achten, was wir uns gegenseitig alles einreden. Und wir müssten besser aufpassen, dass wir einander nicht wie Objekte benutzen.
Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten


 ...und weil ich gerade auf einem Kindheits-Retro-Trip bin: anbei die vollständige Titelmelodie zu "Es war einmal... Der Mensch".

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