05 Dezember 2012

Siamese Dream


Schon den Zeitgenossen kamen Dr. Freud und Dr Schnitzler wie siamesische Zwillinge vor: Hier die «Traumdeutung», da die «Traumnovelle», hier der Ödipuskomplex, da «Frau Beate und ihr Sohn». Aber gerade weil sie sich offenbar so nahe waren, gingen sie sich höflich aus dem Weg. Einmal raffte sich Freud auf und schrieb Schnitzler von seiner Scheu, ihn zu treffen, es sei «eine Art von Doppelgängerscheu». Denn er habe durch die Lektüre von Schnitzlers Erzählungen und Theaterstücken den Eindruck gewonnen, dass «Sie durch Intuition – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen entdeckt habe». Doch auch dieses Bekenntnis änderte nichts. Wie zwei Magnete mit zu ähnlicher Spannung konnten sie sich nicht zu nahe kommen. Aber sie nahmen es beide mit Humor. Als 1913 bei Dr. Schnitzler in die Praxis der blutüberströmte Sohn eines Industriellen eingeliefert wurde, dem ein Pony in den Penis gebissen hatte, da ordnete der Doktor an: «Den Patienten bringen Sie sofort in die Unfallklinik  und das Pony am besten zu Professor Freud.»
aus: Florien Illies, 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts

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