06 Dezember 2012

Duftende Zeit (Tales about Time X)


"Sowohl die mythische als auch die geschichtliche Zeit besitzen eine narrative Spannung. Eine besondere Verkettung von Ereignissen gestaltet die Zeit. Die Erzählung lässt die Zeit duften. Die Punkt-Zeit ist dagegen eine Zeit ohne Duft. Die Zeit beginnt zu duften, wenn sie eine narrative Spannung oder eine Tiefenspannung erhält, wenn sie an Tiefe und Weite, ja an Raum gewinnt. Die Zeit verliert den Duft, wenn sie jeder Sinn- und Tiefenstruktur entkleidet wird, wenn sie atomisiert wird oder sich verflacht, verdünnt oder verkürzt. Gerät sie ganz aus der sie haltenden, ja verhaltenden Verankerung, so wird sie haltlos. Gleichsam aus der Halterung gelöst, stürzt sie fort. Die Beschleunigung, von der heutzutage viel die Rede ist, ist kein Primärprozess, der nachträglich zu unterschiedlichen Veränderungen der Lebenswelt führte, sondern ein Symptom, ein Sekundärprozess, nämlich eine Folge der haltlos gewordenen, atomisierten Zeit, einer Zeit ohne jede verhaltende Gravitation. Die Zeit stürzt fort, ja überstürzt sich, um einen wesentlichen Mangel an Sein auszugleichen, was ihr jedoch nicht gelingt, denn die Beschleunigung allein erzeugt keinen Halt. Sie lässt vielmehr den vorhandenen Mangel an Sein nur noch penetranter erscheinen."
Byung-Chul Han, Duft der Zeit

 

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