03 Dezember 2012

Atomisierte Zeit (Tales about Time VIII)


"Die geschichtliche Zeit kann deshalb nach vorne stürzen, weil sie nicht in sich ruht, weil sie ihren Schwerpunkt nicht in der Gegenwart hat. Sie lässt kein Verweilen zu. Das Verweilen verzögert nur den fortschreitenden Prozess. Keine Dauer verhält die Zeit. Die Zeit ist sinnvoll, insofern sie sich auf ein Ziel zubewegt. So macht die Beschleunigung Sinn. Aufgrund der Bedeutsamkeit der Zeit wird sie jedoch nicht als solche wahrgenommen. In den Blick fällt vor allem der Sinn der Geschichte. Die Beschleunigung drängt sich nur dann als solche auf, wenn der Zeit die geschichtliche Bedeutsamkeit, der Sinn entschwindet. Sie wird genau in dem Moment eigens thematisch oder problematisch, in dem die Zeit in eine sinnleere Zukunft fortgerissen wird. Die mythische Zeit ruht wie ein Bild. Die geschichtliche Zeit hat dagegen die Form einer Linie, die auf ein Ziel zuläuft oder zurast. Entschwindet der Linie die narrative oder teleologische Spannung, so zerfällt sie zu Punkten, die richtungslos schwirren. Das Ende der Geschichte atomisiert die Zeit zu einer Punkt-Zeit. Der Mythos wich ehemals der Geschichte. Das statische Bild wurde zur fortlaufenden Linie. Geschichte weicht nun Informationen. Diese besitzen keine narrative Länge oder Weite. Sie sind weder zentriert noch gerichtet. Sie stürzen gleichsam auf uns ein."
Byung-Chul Han, Duft der Zeit

The Sound of Earth by Yuri Suzuki 

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