18 Februar 2022

Tag 16: Zweifel

Es wird oft vorkommen, dass Du Dich fragst: hat das alles einen Sinn? Die Anstrengungen, die Du unternimmst. Die Übungen, die Du Dir auferlegst. Die Disziplin, der Du Dich unterwirfst. Du verlangst Dir viel ab und spielst ein blindes Spiel, nicht wissend und nicht sehend, ob Dein Einsatz je Früchte tragen wird. In den seltsamen Gefilden Deiner Seele sind Siege nicht so leicht zu erringen, wie in der äusseren Welt. Selbst wenn sich erste Silberstreifen an Deinem Horizont abzeichnen, werden Dich sogleich die dunklen Schwingen des Zweifels wieder einholen. Es ist ein einsamer Pfad, auf dem Du schreitest. Und das nächste Lagerfeuer ist noch nicht in Sicht.

Die Zweifel, so wird Dir allmählich klar, ergeben sich daraus, dass Du ein Leben lebst, das gegen die Zeit gerichtet ist. Wo die Zeit sich für viele atomisiert hat, nach ihrer langen Flucht nach vorn, und nunmehr keine Einheit mehr bildet, da suchst Du Anschluss an den alten Strom.[1] An den Weg, den viele vor Dir gegangen sind, mit rangvollen Namen der Vergangenheit. Und nun stehst Du vor der gleichen Pforte, zaudernd, und fragst Dich, woher Du den unbeirrbaren Willen nehmen sollst, um ihrem Beispiel zu folgen. Und den Mut, Dich auf ihre Schultern zu stellen. Du fühlst Dich schwach und klein, denn Du weisst, es wird von Dir nicht weniger verlangt werden, wenn Du diesen Pfad mit Deiner Tat und Deiner Wahrheit einschlägst. Und noch befürchtest Du, dass Dir dafür das unbezwingbare Rüstzeug fehlt, sowie das unerschrockene Wesen des Kämpfers.

An diesem Punkt ist eines wichtig zu verstehen: wir, die wir dazu aufgerufen sind, in die grosse Kette des Seins zu treten, sind vom selben Schlag. Manche Glieder glänzen mehr, weil sie lange geschmiedet und sorgsam poliert wurden. Doch jedes noch so kleine Glied trägt das ihre dazu bei, dass die Kette nicht bricht. Jedes einzelne Glied hat seine Aufgabe in der ewigen Erzählung der Menschheit, und zum gegebenen Zeitpunkt erfolgt der Ruf an jeden von uns. Dies nun ist ein guter Augenblick, um Dir Scheuklappen aufzusetzen, damit Du weder nach links noch nach rechts, und auch nicht nach vorne oder hinten blickst. Nimm Deinen Platz ein und verharre. Nimm Deine Bestimmung an und schöpfe. 

Anstrengung, Übung, Disziplin: sie werden dafür sorgen, dass Du im Fluss bleibst, nicht weiter zögerst, obschon Du zweifelst. Und ehe Du Dich versiehst, wird man Dir Neugier an die Seite stellen, und Dankbarkeit. Du wirst wieder mit grossen und unverstellten Augen in die Welt blicken, dankbar dafür, dass Du lebst, dass Du atmest und dass Du Teil dieses gewaltigen Abenteuers bist. Die Namen von Rang werden Dir keine Angst mehr einflössen, sondern tiefe Liebe: denn weil sie diesen Weg schon vor Dir gegangen sind, weisst Du, dass ein Mensch ihn gehen kann. Du weisst, dass Du in ihnen Leuchtfeuer findest auf Strecken, die noch vor Dir im Nebel liegen. Sei Dir gewiss, dass hinter dieser Nebelwand Himmel und Erde liegen, bereit und darauf wartend, entborgen zu werden.[2] Nur kannst Du nicht erzwingen, wann Du aus der Mauer brichst.  

Darin liegt das wahre Geschenk der herausragenden Pioniere des Geistes: ihre Leuchtfeuer haben so hell geleuchtet, dass sie auf ewig eine Spur hinterlassen haben, der jene mit Fackeln folgen können, die aus ihrer Zeit fallen. Wenn Du fällst, tauchst Du auf im Ozean des Bewusstseins. Wenn Du tauchst, fängt Dein Funke an zu glimmen. Und wenn Du glimmst, beginnt Deine Lehrzeit als Fackelträger.



[1] Byung-Chul Han, Duft der Zeit. Ein philophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Bielefeld 2009

[2] "A new heaven is the emergence of a transformed state of human consciousness. And A New Earth is it's direct reflection in the physical realm." Eckhart Tolle, A New Earth: Awakening to Your Life's Purpose, Dutton 2005

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