15 Februar 2022

Tag 15: Abbitte

Was ich über Vergebung weiss: sie benötigt Zeit und erfolgt in Stufen. Nimm Dir die Zeit, um alle Stufen nacheinander abzugehen. Du wirst nicht schneller gehen, wenn Du nach unten fällst. Du wirst nur härter fallen.  

Vergebung wird Dir alles abverlangen, was Du bisher kanntest. Sie ist ein einsamer Ort, ein stiller Krieg, den Du bis zur letzten Kugel mit Dir selbst austrägst. Ein Teil von Dir möchte nicht vergeben, er sieht noch zu viel Herzblut, das in diese eine Sache, diesen einen Menschen hineingegossen wurde. Also schreit er, wütet, zetert, klagt, denn zu oft schon wurde er in Kleinmut geleugnet und in Grossmut übergangen. Geh los und sei gewillt, mit ihm vierzig Tage durchs Tal der Tränen zu schreiten. So lange und mehr wird es dauern, bis all sein Hader und Zorn, alle Bitternis und Kummer ausgeschöpft sind, und ihr auf der Anhöhe am Ende des Tals zur Ruhe kommt. Setz Dich daneben und bezeuge Dein Leid. Und dann lege Deinen Arm um dieses innere Kind, das Dein Leid bis hierhin für Dich getragen hat, während Du stetig weggesehen hast. 

Unter der Anhöhe, wo das Labyrinth beginnt, begegnest Du den dreieinigen Göttinnen der Rache. Für sie gibt es das Wort Vergebung nicht. Sie lassen Dich nicht so leicht damit davonkommen, dass Du gewahr wirst und heilst. Sie wollen Blut sehen, wo zuvor Blut geflossen ist. Eine von ihnen ist rastlos in ihrer scharfen Rage, sie peitscht Deine Gedanken in dunkel kreisende Bahnen. Die zweite lodert in roher Wut und hält ihre verkohlte Fackel ans licht scheinende Glück eines anderen. Und die dritte ist jene, die in bitterem Furor ins kalte Jagdhorn der Vergeltung bläst. Weshalb, so jaulen sie im unheiligen Chor, soll der andere unversehrt davon kommen? Leiden soll er, wie Du selbst. Leiden, bis Dein Leid zu seinem geworden ist: Auge um Auge, Tropfen für Tropfen. Doch die Rache war niemals Dein, deshalb tritt ein ins Labyrinth und wende Deinen Blick nach unten. 

Du näherst Dich bald schon dem Höllenhund, diesem unermüdlichen Schwellenhüter. Du weisst, kein Lebender und kein Toter kommt an ihm vorbei, also musst Du zu etwas anderem werden. Sein Anblick graut Dir nicht, denn Du hast weit mehr Grauen gesehen, oben in der Welt der Schatten. Du verhandelst mit ihm Deinen Eintritt, versprichst ihm dieses und jenes. Aber er will weder Deinen Honig, noch Dein Pfund Fleisch. Als seinesgleichen lässt er Dich passieren. Von hier führt der Weg durchs Herz der Finsternis, aber den Zunder, den Du suchst, findest Du erst am Ende der Reise. Sie wird noch dauern, also zieh die zerschlissenen Jagdstiefel aus und wandle bussfertig auf blossen Füssen. Das Labyrinth ist kein Irrgarten: jede Treppe, jeder Gang will bedachtsam abgeschritten werden, und der Ausgang ist bekannt. Wenn Du zuletzt angekommen bist, in der klaren Mitte, eröffnet sich Dir die ungewisse Einsicht, dass der Zunder schon immer in Dir angelegt war. Denn Du wurdest in beide Richtungen hin geschaffen, um von der Mitte aufzusteigen in die Höhe, oder von ihr hinabzufallen in die Tiefe. Wir Menschen, selbsternannte Abkömmlinge von Göttern, sind im Grunde einfach gestrickt. Wir schlagen Funken. 

An diesem Scheideweg wirst Du Dich eine Zeit lang den schwarzen Fluten des Acheron übergeben und ziellos treiben lassen. Du hast nun erkannt, wie Du mit vermeintlich guten Absichten den Abstieg in Deine eigene Hölle gepflastert hast, grell ausgeleuchtet im panoptischen Blick der Anderen.[1] Zu oft parodieren wir das Gute, statt gut zu sein. Doch aus der Erkenntnis, dass wir am Bodensatz unserer Seele alle Anlagen finden, vom höchsten Edelmut bis hin zum Bösen, erwächst schliesslich tiefe Heilung. Wir begreifen, dass wir uns ebenso an anderen verschuldet haben, wie sie sich an uns. Und hier in der Tiefe betrachten wir den Minotaurus am Boden und vergeben uns diese letzte Tat. Wissen fortan, dass man auf alten Wegen nicht zu neuen Orten kommt. 

Und so wird das, was uns bislang im schweren Sog der Gravitation niedergedrückt hielt, die Waffe in unserer Hand, unser gestriges Blei: in der Stille nach dem Schuss zum Gold von Morgen. Ist Dein Herz inzwischen leichter als eine Feder, hält es - hältst Du - dem Urteil stand. 



[1] «L’enfer, c’est les autres.» Jean-Paul Sartre, Huis clos, 1944 (in der Zeitschrift L’Arbalète)

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