23 Januar 2022

Tag 9: Melencolia

Du kannst nur das in die Welt tragen, was Du selber bist. Wenn Du nur Weltschmerz siehst, überall, in allen Geschichten und Gesichtern, kannst Du nur Weltschmerz sein. Und nichts wird sich geändert haben. 

Nimm also diesen Schmerz, und besehe ihn in jeder einzelnen Schattierung. Du denkst, die Menschen sind ignorant? Dann widme Dich Deiner eigenen Torheit. Du denkst, sie sind eitel? Stelle Dich Deinen eigenen endlosen Vergleichen. Du leidest daran, dass Die Menschen feige sind und grausam? Grausamkeit wird aus der Feigheit geboren. Werde Deiner Mutlosigkeit gewahr und erkenne, wie sie dazu verführt, dass auch Du den Stab über Deinen Nächsten brichst. Erkenne Dich selbst. Die Welt ist ein Spiegel: was Du in Dir selbst erkennst, das tritt in ihr zu Tage; so lautet das Gesetz der Verflechtung von allem mit allem. 

Weise Menschen wissen, dass nichts dem Wachstum abträglicher ist, als zu frühe Verwirklichung. Der Baum, der zu früh zu viel Nahrung zieht, wächst nicht gerade und stirbt lange vor seiner Zeit. Er schöpft nie aus seiner vollen Reife. Was zu früh war für Dich, vom schalen Zucker der Eingerichtetheit in der Welt, wirst Du wissen, wenn Du zurückblickst auf die verdorrte Erde hinter Dir. Warst Du selbstgerecht im Kern, statt Liebe zu sein? Warst Du eine Märtyrerin, eine Heilige, ein Zelot voll hohlem Eifer, übersättigt von fremdem Gesetz? Oder warst Du lediglich der ewige Philister, belehrend im Auftritt, massregelnd im Wort. Du dachtest, Du wüsstest es besser als die blinden Schafe Deiner Gegenwart, und warst doch in Deinem Hochmut so, so taub. Hättest Du nur etwas länger noch ein Schattendasein gefristet, anstatt der Blüte nachzujagen. Doch so nahm das Leben dies alles, was Du je zu wissen glaubtest, und spuckte es Dir vor die Füsse. Deine hehren Worte? Blanke Phrasen, nach denen Du nie gelebt hast. Du hast Wein aus leeren Schläuchen getrunken, während Du laues Wasser gepredigt hast, und warst der Splitter im fremden Auge, während Du den Balken vor Deinen Augen nicht einmal erahntest. Die Scheuklappen blind festgezurrt.

Du sassest danach sehr lange an der dunklen Küste der Melancholie und blicktest in die sternlose Nacht. Und fandest: nichts. Nichts, dem Du den Wert des Guten, Wahren und Schönen hättest neu beimessen können. Es hat Dich beinahe zerstört. Du hast ungezählte Male in die sternlose Nacht gerufen, ungehört, wie du dachtest. Du hast die Götter angefleht und wolltest doch Recht behalten, in Deiner Blindsicht einer Welt am Abgrund, deren Abyss Du in Deiner Seele widerfandest. Ich bin böse, dachtest Du. Ich bin eine offene Wunde, die gärt, und niemals heilt, und deswegen bin ich ein Splitter in der Seite meiner Liebsten. Hier ist nicht mein Platz. Dies ist der dunkelste Punkt, an den ein Mensch reisen kann. Doch von dort aus, aus dieser schier endlosen Schwärze, erschliesst sich auch der hellste Punkt. Denn wisse, wir alle liegen in den Gossen dieser Welt, aber einige von uns haben dabei die Sterne fest im Blick[1]: selbst dann, wenn sie noch hinter Wolken liegen. Lass zu, dass das Sternenlicht Dich erfasst. Es reist von einem fremden Ort, um Dir zu sagen: siehe, Menschenkind, auch das bist Du. Ewigkeit und Licht. Vergänglichkeit und Schatten. Du bist alles und wurdest in die Mitte dieser Welt gestellt, um eine Wahl zu treffen.

Und dies, dann, ist die Wahl: Wenn etwas beständigen Wert haben soll, musst Du es leben. Erst in der gesamthaften Fülle gelebter Erfahrung erschliesst sich Dir Bestand. Du musst wissen, was Liebe nicht ist, bevor Du Liebe sein kannst. Du musst wissen, was Schmerz ist, bevor Du Dir Freude abringen kannst. Und Du musst wissen, was Leiden ist, bevor Du frei wirst davon. Dann wirst Du leicht, wirst ein tanzender Stern, und alle Schwere gleitet von Dir ab, hinab zum staubigen Grund.[2] Du siehst in dem Moment: Du warst nie allein, in Deiner sternlosen Nacht. Du warst stets umgeben von der ewigen Hand Gottes. Grausamkeit erweist sich als Gnade, denn hättest Du nie erfahren, dass Du eine offene Wunde bist, könntest Du Dich nicht an die Aufgabe machen, aus dem Kern heraus zu heilen. Du würdest Dein Leben lang zunächst mit diesem Verband, dann mit jenem entlang der Wände des Labyrinths irren, ohne zu merken, dass der einzige Verband, auf den es je ankam, immerzu auf Deinen Augen lag. Wenn Du ihn abnimmst, siehst Du die Dinge, wie sie wirklich sind. Du hast dann gelernt, durchlässig zu sein für jedes Gefühl, das das Leben an Dich heranträgt. Deine Lehrzeit der Durchlässigkeit ist damit abgeschlossen und Du machst Dich daran, leer zu werden. Damit Dich, endlich, Liebe ganz erfüllt.

Und wenn sie es tut, wirst Du verstehen: für diese letzte Heilung gibt es keine Sprache. Also rede nicht. Schöpfe.  



[1] «We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars.» Oscar Wilde, Lady Windermere's Fan: A Play About a Good Woman, London 1893

[2] «Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.» Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Chemnitz 1883

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