22 Januar 2022

Tag 8: Gezeiten

Du kannst schwierige Dinge tun. Lerne, Deinen inneren Gezeiten zu lauschen, und Dir wird sich in der Ruhe der Ebbe und im Zug der Flut das Wesen von Stärke offenbaren.

Die Gezeiten des Meeres und des Inneren sind ein Wunder. In Augenblicken der Expansion findest Du Dich weit draussen, im Wellengang. Du spürst die strömende Kraft und bist bereit, in Angriff zu nehmen, anzunehmen, was immer das Leben an Dich heranträgt; jedes Treib- und Strandgut. Doch diesen Augenblicken gehen andere voraus und folgen andere nach, dann stehst Du wieder hier an diesem Strand und blickst in die Ferne: zum weiten Horizont. Du fragst Dich, ob Du je dort ankommen wirst, wo Meer und Horizont sich begegnen. Du weisst, dafür musst Du schwimmen lernen. Es führt kein Weg daran vorbei. Und so kommt der Tag, an dem Du Deine Zehen ins Wasser gleiten lässt, vorsichtig, langsam. Achtsam. Neubeginn erfasst Dich, in der Kälte, die Du fühlst, in der Gischt, die Dich umspült und im Rauschen, das Du vernimmst. Du betrachtest Deine Füsse im Wasser, riechst das Salz in der Luft und in Deinem Mund entfaltet sich ganz allmählich die Lust, auf – mehr: Meer. Vielleicht ist diese Erfahrung schon genug, vielleicht hast Du Dein heutiges Soll bereits erreicht. Du setzt Dich wieder ans Ufer, in den warmen Sand, und schaust dem Wellengang weiter zu, mit Wärme im Herzen. So, denkst Du, muss Frieden sein. Der erste kleine Schritt ist getan. Und Du weisst nun mit Sicherheit, es werden weitere kleine Schritte folgen, denn Du hast vom Abenteuer gekostet; und wer einmal vom Abenteuer gekostet hat, wahrhaft und tief, den lässt es nie mehr los. 

Jeden Tag setzt Du Dich fortan an Dein Ufer und blickst hinaus zum Horizont. Dir ist fast so, als wäre er bereits ein Stück näher gerückt – durch Deine eigene Annäherung. Es kommt der Moment, wo Du aufstehst und Deine Zehen wieder ins Wasser hältst. Vielleicht ist auch heute damit genug und dem Abenteuer genüge getan, vielleicht magst Du noch ein Stück tiefer ins Wasser waten. Du machst Dich damit vertraut, entlang Deiner Füsse, entlang der Waden. Gehe diese ersten Schritte bewusst und übereile nichts. Die Schritte, die Du jetzt überspringst, wirst Du später nachholen müssen: dann, wenn Dir das Wasser bis zum Hals steht. Du lässt Dir daher alle Zeit der Welt, wie ein kleines Kind, denn genau dafür wurde die Zeit einst geschaffen: nicht, damit Du am Ziel ankommst, sondern damit Du den Weg zum Ziel gehst. Aus diesem Wissen, das Du auf dem Grund Deines Herzens, dieses unermüdlichen Kriegers, findest, schöpfst Du schliesslich genug Vertrauen, um eines Tages die ersten Schwimmversuche zu wagen. Zaghaft, behutsam versuchst Du zu ergründen, wie es sein kann, dass das Wasser Dich trägt. Denn siehe: es trägt Dich. Bis zu diesem Zeitpunkt sind vielleicht schon viele Tage am Strand vergangen. Und bis Du erstmals dem Horizont entgegen schwimmst, werden vielleicht ebensoviele Tage vergehen. Dir ist inzwischen klar, dass Du eine gute, eine meisterhafte Schwimmerin werden musst, wenn Du je den Horizont erreichen willst, dort, wo Meer und Himmel sich begegnen. Also übst Du unentwegt weiter.

An manchen Tagen reicht es, durchs Wasser zu kommen, bis zum Punkt, wo Du das Schwimmen in wenigen Zügen übst, und es wird genug sein. Es wird jedoch auch Tage geben, an denen Du am Strand sitzen bleibst. Lass auch das geschehen. Wenn Du es bis ans Ufer schaffst und Dich in den warmen Sand setzt und zum Horizont blickst, der inzwischen der Deine ist, dann ist auch das: gut genug. Während Du den Gang der Wellen beobachtest, lernst Du etwas über die Gesetzmässigkeit ihres Schlags. Während Du das Meer beobachtest, lernst Du etwas über den Sog der Gravitation. Aus dem Rückzug und Vorwärtsdrang der Wellen und des Meeres im ewigen Wechsel von Ebbe und Flut lernst Du schliesslich auch etwas Unwandelbares über Deine eigene Natur. Es gibt Momente, in denen Du vorwärts drängen kannst, und es gibt Momente, in denen Du innehalten musst, und ruhen. Wenn Du achtsam genug bist, wirst Du wissen, an welchem dieser beiden Punkte Du gerade richtig stehst. Wer zu früh vorprescht, verliert; verliert sich irgendwo im Wellengang, ohne je den Horizont zu erreichen. Wer geduldig ist, übt und mutet sich eben das zu, was er in diesem Moment zu leisten vermag. Wann immer Du jene geschmeidige Zone der Herausforderung triffst, die Deine Kräfte nicht übersteigt und doch fortwährend dehnt, wirst Du geschmiedet. Lass zu, dass die Glieder schmerzen, lass zu, dass die Kälte Dich härtet. Und lass Deinen Geist müde werden. Aber lass nicht zu, dass Du Dich in Eile verirrst oder im Streben nach Perfektion ins Leere läufst. Wer ein Meister werden will, muss Meisterschaft erlangen. Es gibt keinen Umweg und keine Abkürzung. Es gibt nur die eine Wahrheit der zehntausend eingelegten, unperfekten Stunden.

Irgendwann kommt der Tag, wo Du schon so oft in Richtung Horizont geschwommen bist, dass Du untrüglich merkst: heute ist der Tag, an dem Du dem Horizont begegnen wirst. Du hast die schwierigen Dinge alle getan, nacheinander, und sie haben Dir vollkommene Meisterschaft verliehen. Und während Dein Gesicht am Meeresufer im Sand verschwindet[1], zugedeckt von allerlei Treib- und Strandgut aus der Schwemme des Lebens, gewinnst Du am Ende: Dich.  



[1] Michel Foucault, Les mot et les choses, Paris 1966

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen