24 Januar 2022

Tag 10: Vermessung der Seele

Wer seine Segel setzt, sagt man, sollte wissen, wohin er fährt. Nur so könne er sie richtig setzen. Kein Wind, sagt man, ist demjenigen gewogen, der nicht weiss, wozu er aufbricht. Doch ist man bisweilen schneller, wenn man den Gegenwind kreuzt, statt mit ihm zu segeln. Und man könne keine neuen Erdteile entdecken, ohne die Bereitschaft, die vertraute Küste hinter sich zu lassen. Sagt man. [1] Aber dieses Meer in Dir, in das Du stechen willst, ist eins, das noch auf keiner Landkarte steht. Es wurde nicht vermessen, nicht verzeichnet; es wartet auf Dich wie eine weisse Leinwand. Du kennst weder die sicheren Häfen dieser Welt, noch die Strömungen auf Hoher See. Also richtest Du Deinen Kompass aus.

Wer bereit ist, aufs Meer zu segeln, nur mit einem Kompass im Gepäck, setzt sein Glück auf offene Enden. Er glaubt nicht an ein festes Fatum, an Kismet oder Geschick. Er weiss, dass er sein Boot nicht an einen brüchigen Anker und sein Leben nicht an eine unverbrüchliche Hoffnung binden kann.[2] Denn der Wind kann seine Richtung ändern, zu jeder Zeit. Und wenn der Wind Veränderung weht, suchen manche den Schutz im scheinbar Gesicherten, während andere gerade dann die unsicheren Segel hissen. Sie tragen das Abenteuer in sich und wissen, dass Sicherheit ein Mangel ist. Sie wissen, dass wir nicht über den Wind gebieten, wohl aber darüber, wie wir unsere Segel richten. Wer auf Dauer gegen Wind und Wellen bestehen will, muss sich auf gute Seemannskunst verstehen. Doch an Land wurde sie noch nie gelehrt. Übe die Knoten, bis sie blind sitzen. Lerne, den Wind zu lesen, bis Du ihn kennst wie Deine Hand. Und wenn es Abend wird, spinne Dein Garn. Schnitze. Deine Widerständigkeit wächst dort, wo Du nein zum Rückzug sagst. Wenn der erste Sturm aufzieht, ziehst Du die Segel ein und harrst. Hast Du den einen Sturm überstanden, nimmst Du auch den nächsten. Es ist nicht so, dass Du furchtlos wärst. Aber Dein Kompass zeigt gen Norden, den wahren Norden, und Du weisst: dort musst Du hin.

Während Du segelst auf Deinem Meer, wirst Du vom Schüler zum Meister. Du passierst unzählige Häfen und in allen findest Du etwas, das zum Innehalten verleiten möchte. Dich lockt der Sirenengesang des Schönen. Es wäre kein undenkbarer Ort zum Bleiben, es sich häuslich einzurichten. Und Du bist auch schon so weit gekommen. Aber der wahre Norden ist es nicht, also vergiss die Augenbinde nicht. Je näher Du ihm kommst, desto mehr lässt Du den Süden hinter Dir, das wirtliche Land. Wo das Wasser Dich hinträgt, wird die See härter, die Winde rauher. Aber Deine Seele findet Frieden hier, in diesen ungastlichen Gefilden. Sie ahnte immer schon, dass Vollkommenheit - jenes schön eingerichtete Haus am südlichen Meer - alles Abenteuer in Anfängen erstickt. Ihr Zuhause ist dieses Boot, ihre Heimat diese Hohe See. Dort, wo die Schollen sich aufeinander schieben und die Durchfahrt nur im Sommer möglich ist, wenn das Packeis sich für kurze Zeit öffnet. Das Eis in diesen Gewässern ist unberechenbar, trügerisch. Wind und Strömung treiben es erst in die eine Richtung, dann in die andere, und noch heute ist diese Reise eine Passage durch Ungewissheit. Doch das Ziel war nie, neue Landmassen zu entdecken. Sondern den Ozean in Dir. 

Hier wird sich zuletzt weisen, ob Du das wahre Geschick zu zwingen vermagst und ob das Holz, aus dem Du Dich geschliffen hast, in allen Stunden auf dem Meer, im Gegenwind taugt. Ob Du zum Ruder geworden bist. Denn siehe, das Holz, aus dem Du beschaffen bist, bleibt sich jederzeit gleich. Es ist die Form, in die das Leben es bringt, auf die es ankommt.



[1] «Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren.» André Gide, Les Faux-monnayeurs, Paris 1925

[2] «Ein Schiff sollte man nicht an einen einzigen Anker und das Leben nicht an eine einzige Hoffnung binden.» Epiktet


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