19 Januar 2022

Tag 6: Karten

Der einzige Einsatz, der je zählen wird, ist der, den Du auf Dich selbst platzierst. Die Frage ist, was Du bereit bist zu riskieren, und was Du in die Waagschale wirfst. Gehst Du All-in, setzt Du alles auf eine Karte: wirst Du es wagen?

Wenn Du so bist wie ich, wie die meisten, so wie es nahezu jeder ist, den Du je gekannt hast, dann wirfst Du Dein Wohl in die Waagschale und spielst auf Zeit. Während Du zugleich darauf wettest, dass die gleichförmige Hand, die Dir einst ausgeteilt wurde, Deinen Lebensverlauf sichert. Und die Zeit gewinnt. Jahre werden ins Land ziehen, während Du an diesem Blatt fest hältst, obwohl immer offenkundiger zu Tage tritt, dass es Deinen Teller nicht zu füllen vermag, mehr noch: dass dieser Teller, der Dich stets davon abhielt, den ganzen Tisch zu sehen, zu klein ist. Dieser Teller sättigt nicht. Du wagst es, einen Blick über den Tellerrand zu werfen, und was Du siehst, erfüllt Dich mit Angst. Etwas keimt dort im Zwielicht, behutsam und zart, das erkennst Du wohl. Aber so viel anderes baut sich direkt daneben drohend auf, dass Du schon im Zweifel begriffen bist, bevor Du überhaupt beginnst. Pflicht, denkst Du, was ist mit Pflicht. Was ist mit Not und Notwendigkeit. Und was ist mit Liebe, denn oft genug ist es die Liebe, die Dich zurück hält. An Deinen Platz bindet. Doch: kann Liebe binden? Liebe ist Freiheit, sie ist unendlicher Raum. Sie ist Weite und der Geschmack von Abenteuer in Deinem Mund; das Prickeln des Ungewissen auf Deiner Haut. Du warst nie für Sicherheit gemacht.

Deine Wurzeln musstest Du zunächst dort schlagen, wo Deine Herkunft ist, und dafür gab es einen Grund. Segne diesen Grund und dann: geh hinfort, und siedle Dich um. Bevor Du zu gross, zu schwer und zu behäbig geworden bist. Zu eingerichtet an diesem Platz, wo die Liebe Dich bindet. Wenn man Dir Flügel mitgegeben hat, nutze sie. Ansonsten lerne, sie Dir selbst zu bauen. Man sagt, dass der Mensch für gutes Wachstum Wurzeln braucht und Flügel. Aber niemand hat gesagt, was für Wurzeln, und was für Flügel. Sie sagten nichts von Luftwurzeln, die entlang von Baumstämmen und Felsen gedeihen. Keine Kargheit schreckt sie, und aus der Kargheit entwachsen Blumen in die Welt. Und Vögel, Greifvögel haben mitunter schmale Flügel, sie verleihen ihnen Geschwindigkeit im Sturzflug. Die Natur kennt viele Formen, lerne von ihr. Wurzeln müssen nicht tief reichen und fest sein, Flügel nicht breit. Daraus entsteht Eigenart. 

Es kommt der Tag, an dem Du mit Sicherheit weisst, dass dieses Haus - das Haus Deiner Eltern - Dich nicht mehr hält. Dass ihr Teller zu klein ist und auch ihr Tisch. Um Deinen Halt zu finden, musst Du hinaus, musst reisen und die Welt erkunden. Es wird nicht leicht: aber um wieviel schwerer wiegt der Keim, den Du in Deinem Herzen trägst und nicht gedeihen lässt? Willst Du ihn bis zu dem Tag, an dem der Tod ans Fenster Deiner Seele tritt, verschlossen in Dir bewahren? Bedenke, Du wettest hier zuletzt unter Einsatz Deiner Seele. Es ist nichts weniger als Dein Leben, das auf der Kante steht. Gehst Du All-in, setzt Du alles auf diese eine Karte? Der Zug ist einfach und doch so, so volatil. Du könntest in einer Runde alles verlieren. Du könntest auch: alles gewinnen. 

Vergiss das Ass in Deinem Ärmel nicht. Es war nie vorgesehen, dass Du gewinnst, hier in diesem Haus. Öffne das Fenster und wenn Du gehst, schliess die Tür hinter Dir. In Dankbarkeit.

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