Solange Du hier bist, ist Deine Arbeit nicht getan. Erinnere Dich daran, wenn Du denkst, Du hättest Dein Leben unter ein sicheres Dach gebracht. Wo immer Du gerade stehst, es ist nur ein Moment. Ein Ausschnitt. Eine Etappe. Sie werden vorüber gehen, wie auch Dein gegenwärtiger Enthusiasmus. Du kannst sie nicht mit in eine neue Gegenwart nehmen. Sie waren nie dazu gedacht, mehr als den Hauch eines Augenblicks zu dauern. Also gehst Du aus dieser Höhe zurück in Dein Leben und in Dir wächst die Erkenntnis, dass es immer noch eine Kurve zu nehmen und einen nächsten Anstieg zu meistern gilt. Gönne Dir kostbare Rast, doch sei nicht versucht, zum Augenblick zu sagen: verweile doch – [1]. Das Leben will in jedem Moment weiter gelebt werden.
‘Was ist dann der Sinn des Lebens’, fragst Du, mit Leere im Herzen und Verwirrung im Geist. ‘Was ist der Sinn des Lebens, wenn nicht diese wenigen Momente, die wir mit den Göttern teilen?’ Die Momente des siegreichen Triumphs nach zahllosen Entbehrungen, Momente, in denen wir alles überwunden haben, was uns gebunden hielt. Als wir unverhoffte Antworten erhielten, auf die wir lange warteten, bis die Einsicht und das Glück endlich an unsere Tür klopften. Nimm sie alle tief in Dich auf, diese Erfahrungen von Erhabenheit und Grösse – und dann lass auch sie los. Lass sie weiter fliessen. Sie sind nicht für die Ewigkeit gedacht, und wenn Du sie loslässt, werden noch weitere ihrer Art folgen.
Alles ist am Ende nur Schall und Rauch, alles, und darin liegt der Zauber wie auch der Trost dieses Daseins. Wir gewinnen und verlieren; wir lassen los und erneuern. Wir gehen immerfortzu weiter, setzen einen Fuss vor den anderen, ob in Freude oder in Schmerz. Weil der Sinn des Lebens nicht darin liegt, zu erreichen, sondern zu sein. Das bedeutet auch durchlässig zu sein für alles, was um uns, in uns, für uns geschieht. Werde durchlässig. Lass durch Dich hindurchfliessen, was das Leben für Dich bereit hält, all die schönen Tage, wie die schweren. Alles Gute, was Dir widerfahren ist, und alles Schlechte, sei es Dir von fremder Hand bereitet worden oder von der eigenen. Lass die Dunkelheit Dich umfassen, denn wenn sie es tut, kannst Du es nicht aufhalten. Also kämpfe nicht dagegen an, sondern werde wie Wasser, das keinen Widerstand kennt. In der Dunkelheit wird Dein Leben geschmiedet, nicht im Licht. Aber das Licht wird heller durch Dich scheinen, wenn Du in der Dunkelheit erkannt hast, dass das Einzige, was im Leben wirklich zählt, Liebe ist. Nur die Liebe mit ihren vielen Gesichtern. Du sollst die Angst nicht fürchten, mit ihren vielen Gesichtern. Vielmehr sollst Du sie alle in Dir erkennen und verstehen, dass sie genauso Teil Deiner Seele sind wie all die Gesichter der Liebe. Du bist so viel mehr, als Du glaubtest zu sein: wenn Du durchlässig wirst für alles.
Und solltest Du irgendwann in die dunkle Nacht Deiner Seele tauchen, tief hinab zu ihrem Grund – und glaube mir, die Besten von uns, die Freundlichsten, die Gütigsten und die Sanftesten, sie alle waren dort – dann verzweifle nicht. Es wird dauern, bis Du dieses unbesehene Innere erforscht hast, das sich im Laufe Deines Lebens zu geprägter Form verfestigt hat.[2] Doch wisse, wir alle sind da, mit Dir. Das, was Du fühlst, alles, wurde schon gefühlt, von unzähligen anderen. Gib nicht auf, niemals. Sei nicht eine von jenen, die sich in der Dunkelheit endlos verirren und verloren gehen. Keine Angst ist so gross, keine Trauer so schwer und keine Schuld so tief, dass Du daraus nicht wieder emporsteigen könntest. Nicht geläutert, aber weise geworden. Am Abgrund Deiner Seele keimt die Weisheit und setzt der Scham ein Ende. Ich möchte, dass Du das weisst, während Du hinabsteigst. Ich möchte, dass Du an diese Worte denkst, bevor die Dunkelheit Dich für eine Weile aus dem Leben zieht, wie Du es vorher kanntest. Und ich möchte, dass Du Ausschau hältst nach uns, die wir schon vor Dir dort waren. Wir sind bereit, an Deiner Seite zu wandeln, während Du Deinem Weg unbeirrt folgst. Es war nie gedacht, dass Du ganz allein durch die Nacht wanderst.
Sodann, falls Du noch immer fragst, was der Sinn des Lebens ist: der Sinn des Lebens liegt darin, jede Sekunde Deines Lebens zu sein und anzunehmen, in Dich zu nehmen, was das Leben Dir vor die Füsse legt. Die gesamte und gesammelte Bandbreite der menschlichen Erfahrung. Im Widerstand fällst Du aus dem Sinn. In der Annahme wirst Du geborgen, und geboren. Du wächst, wirst widerständig. Du gewinnst an Kraft und irgendwann, wenn Du es längst nicht mehr vermutest und nicht erwartest, wirst Du zum stillen Sturm. Und von da an gibt es keine Macht, die sich Dir in den Weg stellen kann. Denn Du singst, Du tanzt im Takt des Ewig-Gleichen. Du selbst wirst: Musik.
[1] Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie, Tübingen 1808; sowie Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Stuttgart 1832
[2] «Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / geprägte Form, die lebend sich entwickelt.» Johann Wolfgang von Goethe, Urworte. Orphisch
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