20 Januar 2022

Tag 7: Risse

Es heisst, es ist ein Riss in allen Dingen, so kommt das Licht hinein.[1] Ich sage Dir, nicht nur in den Dingen ist ein Riss. Es gibt auch Menschen, die Risse sind.

Dies ist ein Gesang für die, die fallen. Die unterwegs sind zu den Sternen, und dafür im Staub liegen. Sie waten im zähen Schlamm, durchqueren den trüben Morast. Sie kriechen nachts durch den kalten Sand und wälzen sich untertags auf der heissen Erde. Ihr Mantel zeigt die Spur all dessen, was hinter ihnen liegt. Er ist zerwetzt und abgetragen, starr vom Schmutz vergangener Tage. Und doch tragen sie ihn mit Stolz, als wäre er in Wahrheit ein Ehrenzeichen. Ein Orden für den Mut und die Ausdauer und den unbändigen Willen, der Inspiration zu folgen, wohin sie sie auch führen mag. Wir sind viele, und wir tragen die Signatur der Zeit. Wir tragen sie gemeinsam und ein jeder für sich. Vielleicht hast Du uns schon gesehen, irgendwo, bei einem unserer Totentänze. Vielleicht wurde es Dir schwer ums Herz, weil Du wusstest: in diesem Zug der Närrinnen und Narren ist auch Dein Platz. Bei den Verrückten, die jene auslachen, deren Augen noch immer weit geschlossen sind. Du warst noch nicht bereit, diesen Platz einzunehmen, doch er wartet geduldig auf Dich. Jedem von uns ist sein eigener Platz zugewiesen.

Es gab eine Zeit, da bist Du in tausend Stücke zersprungen, und niemand weiss genau wieso. Nicht Dein Umfeld, nicht Du. Vielleicht liegst Du wie ich in der Ferne, flimmernd auf flirrendem Asphalt, in den Strassenschluchten einer weit entfernten Metropole. Vielleicht hat es Dich auch dort zerfetzt, wo Du Dich einst so sicher fühltest und geborgen. In Deinem Heim. Die Kugel hat Dich gezielt und unabwendbar am tiefsten Punkt getroffen. Es spielt keine Rolle, wo und wann und warum es geschah, es zählt nur: Du hast erfahren, wie es ist, keine feste Einheit mehr zu sein. Du bist nicht diese einheitliche Gestalt, die Figur Deines Egos, die Gauklerin, der Spieler. Du bist kein Protagonist. Du bist etwas gänzlich anderes, eine Einheit eigener Form, die das Spiel Deines Lebens beobachtet und zugleich ausserhalb steht. Du bist keine Maske, keine Rolle, ja noch nicht einmal die, die das Drehbuch zu diesem Schauspiel schreibt. Du bist. Und dort, wo Deine Risse Dich zersplitterten, da kam das Licht hinein.[2]

In Japan setzen sie zusammen, was zerbrochen ist, und füllen die Risse auf mit Gold. Diese Kunst des Kintsugi weist auch Dir den Weg. Du weisst, Du wirst nie mehr unzersplittert sein. Aber die Einheit, die Du neu schmiedest, in der Figur, die Du nun zum ersten Mal bewusst zum Leben erweckst: sie ist Deine Wahl. Wähle weise, wähle klug. Lass keine fremden Teile teil Deiner neuen Einheit werden. Manches muss liegen bleiben, dort, auf dem Asphalt. Oder im Staub, im Schlamm, im Morast, im Sand. 

Manches war nie dazu gedacht, Deins zu sein.

 


[1] «There’s a crack, a crack in everything / that's how the light comes in.» Leonard Cohen, Anthem

[2] «Die Wunde ist der Ort, wo das Licht eintritt.» Rumi

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