01 August 2013

Gefühlswelten: Entlieben


Dass wir uns verlieben, ist etwas Wundersames, doch vielleicht noch wundersamer ist es, dass wir aufhören zu lieben. Dieselben Menschen, die uns ehedem schlaflose Nächte voller Begehren bescherten, uns veranlassten, die Stunden und Minuten zu zählen, bis wir wieder mit Ihnen vereint waren, die wir vor dem Unbill dieser Welt beschützen wollten, sind nun jene, denen wir gleichgültig oder gar feindselig gegenüber stehen. Ihre Stimme geht uns auf die Nerven, ihre Klagen lassen uns kalt, wir legen keinen Wert auf ihre Anwesenheit, ihre Schwächen bieten uns nur eine willkommene Gelegenheit, sie ihnen nachzuweisen. Es sind jene, die wir zu lieben aufgehört haben.
Unsere Kultur hat ihn in vielfältigster Form zum Ausdruck gebracht, diesen mystischen Augenblick, in dem eine neue Liebe plötzlich ausbricht, in dem wir wissen, dass jemand für uns bestimmt ist. Das fieberhafte Warten auf einen Telefonanruf oder eine Mail, der Schauer der Erregung, der uns allein schon bei dem Gedanken an den geliebten Menschen erfasst. Verliebt sein heisst, ein Adept Platons werden, in einem Menschen eine Idee sehen, makellos und vollkommen. Zahllose Romane, Gedichte und Filme lehren uns die Kunst, Platons Jünger zu werden, jene Vollkommenheit zu lieben, die die geliebte Person für uns verkörpert. 
Doch die Kultur, die so viel über die Liebe zu sagen hat, bleibt unverständlicherweise stumm zu dem weitaus geheimnisvolleren Phänomen des Sich-Entliebens, wenn derjenige, der uns den Schlaf raubte, uns gleichgültig lässt. Dieses Schweigen ist umso rätselhafter, weil die Zahl von Scheidungen oder kaputten Beziehungen überwältigend ist. Sollten wir uns nicht vielmehr damit befassen, was es heisst, sich zu 'entlieben'? Vielleicht weiss unsere Kultur nicht so recht, wie sie es darstellen soll, weil wir in und durch Geschichten leben, und sich zu entlieben ist, in der Regel, keine Handlung mit einer klaren Struktur, es beginnt nicht mit einem Schlüsselmoment. Tatsächlich handelt es sich beim 'Entlieben' - anders als beim Verlieben - meist nicht um einen einzigen Augenblick; es ist die zermürbende Wiederholung all dieser Augenblicke, in denen der andere unsere Bedürfnisse und Wünsche nicht bemerkt. Entlieben geschieht, wenn wir aufhören, denselben Vorwurf zu wiederholen, dieselbe Szene, die stets dieselbe Klage enthält: "Warum liebst Du mich nicht so, wie ich geliebt werden möchte?" Entlieben ist wie der Stoff unserer Kleidung, der ganz allmählich zerreisst, bis wir plötzlich nackt und zitternd vor Kälte dastehen. Es vollzieht sich wie das langsame und unmerkliche Ablagern emotionaler Stalagmiten, verwandelt uns in einen steinernen Klotz von Feindseligkeit. Entlieben wirkt wie eine Magnetkraft, stösst uns von jemandem ab, manchmal sogar gegen unseren eigenen Willen.
Doch kann das Entlieben bisweilen auch eine völlig andere Form annehmen: nicht als Ergebnis wiederholter Angriffe auf das Ich, sondern eben doch als ein singuläres Ereignis, das eine plötzliche Kluft zwischen uns und dem Menschen, den wir zu kennen meinen, aufreisst. Liebe hat grosse Ähnlichkeit mit einer Glaubensüberzeugung: Jemanden lieben bedeutet, an etwas glauben, das derjenige verkörpert. Wir lieben, solange wir glauben, dass der andere etwas verkörpert, das uns wichtig ist, seine Herzensgüte oder Lauterkeit oder eben seine Liebe zu uns. Doch manchmal, beinahe durch Zufall, erhaschen wir einen Blick auf die Seele des Geliebten und sehen sie in einer Scheusslichkeit, die wir nie geahnt hatten, wir erkennen das krumme Holz, für das wir bislang blind gewesen waren. Sich 'entlieben' bedeutet, nicht mehr daran glauben, was der Geliebte vorgab zu sein. 
Eva Ilouz, Entlieben, in: Grosse Gefühle VI, DAS MAGAZIN N° 30/31


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