15 Mai 2013

Gefühlswelten: Sehnsucht


Wann wissen wir, dass sich an unserem Dasein etwas Grundsätzliches verändert hat? Wir müssen nicht erst jene grandiosen Veränderungen wie die Eisenbahn, das Flugzeug oder das Internet bemühen, um dem abgrundtiefen Unterschied zwischen 'damals' und 'jetzt' auf die Spur zu kommen. Er findet sich ebenso sehr in einem flüchtigen Augenblick des täglichen Lebens, in einem dünnen, kaum sichtbaren Papier, das nicht mehr als ein paar Gramm wiegt. Dieses scheinbar unbedeutende Ding steht im Mittelpunkt von Vermeers 'Briefleserin in Blau', in ihm kristallisiert sich die Dramatik des Bildes. Der Brief, den die Frau in ihren Händen hält - er fesselt ihren Blick, ihm springt ihr Herz entgegen, auf ihn richten sich alle ihre Gedanken. Er ist es auch, der dem Betrachter ein Rätsel bleibt, denn dieser Brief kennzeichnet den Einbruch einer äusseren, uns unbekannten Kraft in den sonst harmonischen Raum. Aber was macht dieses farblose, dünne, kaum sichtbare Blatt Papier zum Brennpunkt dieses Gemäldes, und wieso ist es in unserem Leben so fremd geworden?
Es ist ein Liebesbrief, deshalb fasziniert er uns, weil er die Spur eines Menschen enthält, wie die Reliquie eines Heiligen. Die Frau hat ihre Morgentoilette unterbrochen, um den Liebesbrief zu lesen - oder ein weiteres Mal zu lesen. Alles in diesem Raum ist unbewegt und in der Schwebe, das einzig Lebendige erwächst aus der konzentrierten Versunkenheit der Briefleserin. Die Frau hält den Brief fest, um ihn sich eigen zu machen, durch ihren Blick, ihre Hände, ihren gesamten Körper. Liebesbriefe waren nicht irgendwelche Gegenstände, sie wurden verborgen, geküsst und geherzt, wurden unters Gewand gesteckt, in versiegelten Schatullen aufbewahrt, in eine Aura der Heiligkeit und des Geheimnisvollen gehüllt und der Nachwelt hinterlassen.
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Wo sind unsere Liebesbriefe heute? Sie befinden sich in dem nie endenden Strom von E-Mails, SMSen, Tweets. Wenn wir posten, surfen, browsen, skypen, cyber-daten, dann schreiben wir für einen immer grösser werdenden Publikumskreis, der in Freunde verwandelt wurde, und für Freunde, die in ein Publikum verwandelt worden sind. Der Hauptzweck dieser Technologien ist es, Abwesenheit, Warten und Sehnsucht zu tilgen. Wir wollen uns sekündlich vergewissern, dass alles noch gut ist.
Ist es nun nicht ein Gebot unseres Verstandes, dem, was nicht mehr sein kann, nicht länger nachzutrauern und sich stattdessen für die Gegenwart und ihre Möglichkeiten zu öffnen? Schon. Doch muss ich gestehen: Kein Facebook oder Twitter vermag mich so zu berühren, wie es Vermeers dünnes, blasses Blatt Papier tut. Es sind jene handgeschriebenen Zeilen, ihre Lücken und Schweigepausen, denen mein Herz entgegenspringt. Nur jene dünnen Zeilen und der weisse Raum zwischen ihnen verleihen Wörtern Macht. Und aus ebendiesem Grund flehte Kafka seine Verlobte Felice Bauer an, ihm nicht mehr täglich zu schreiben: "Schreiben Sie mir nur einmal in der Woche und so, dass ich Ihren Brief Sonntag bekomme. Ich ertrage nämlich Ihre täglichen Briefe nicht, ich bin nicht imstande, sie zu ertragen. Ich antworte z.B. auf Ihren Brief und liege dann scheinbar still im Bett, aber ein Herzklopfen geht mir durch den Leib und weiss von nichts als Ihnen. Wie ich Dir angehöre, es gibt wirklich keine andere Möglichkeit es auszudrücken, und die ist zu schwach."
Kafka verkraftete Felice Bauers tägliche Briefe nicht. Wir dagegen surfen auf der glatten Oberfläche eines nie endenden Stroms von Wörtern, auf einer strahlenden öffentlichen Bühne von Geständnissen und Informationen. Haben diese Sprechparaden den Wörtern erlaubt, ihre Kraft zu behalten? Seiner lebenslangen Geliebten Sophie Volland schreibend, im Lichte einer erlöschenden Kerze, in beinahe vollkommener Dunkelheit, definierte Denis Diderot die Kraft seines Verlangens und seiner Sehnsucht: "Lesen Sie überall, wo nichts steht, dass ich Sie liebe."
Eva Illouz, Sehnsucht, in: Grosse Gefühle IV, DAS MAGAZIN N° 17


Nach wie vor grandios: das zeitlose Original. Einmal mehr von U2.  

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