06 April 2013

Die Freiheit zu, nicht von


Keine freien Wahlmöglichkeiten haben [...] all jene Menschen, die unter Bedingungen leben müssen, die es ihnen nicht ermöglichen, ihre körperlichen oder psychischen Grundbedürfnisse zu befriedigen: Hierzu zählen Hunger, Durst, Armut, Not, Krieg, Elend, Terror ebenso wie das ungestillte Bedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit oder das ungestillte Bedürfnis nach Wachstum, Potentialentfaltung, Autonomie. Einen freien Willen kann also niemand haben, dem das, was er zum Leben braucht, vorenthalten wird. Genauso wenig können all jene Menschen einen freien Willen entwickeln, die in Abhängigkeit geraten und manipulierbar geworden sind, die nach schweren traumatischen Erfahrungen ohnmächtig und psychisch zerrüttet zurückgeblieben sind, die geistig verwirrt, dement, zwanghaft, psychotisch oder auf andere Weise psychisch gestört sind und die Fähigkeit zu bewusster Selbstreflexion und Selbstregulation verloren haben. Einen freien Willen kann auch niemand entwickeln, dessen präfrontaler Cortex nicht mehr richtig funktioniert oder noch nie funktioniert hat.
Auch jemand, der nicht viel weiss, nicht viel gelernt hat und nicht viel kann, ist in seiner Willensfreiheit entsprechend eingeschränkt. Wo also Bildung auf der Strecke bleibt, geht auch der freie Wille verloren. Und überall dort, wo Menschen in Familien, in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz als Objekte behandelt und verwaltet werden, wo sie als Ressourcen für bestimmte Aufgaben funktionalisiert werden oder sich selbst an die Erfordernisse und Erwartungen, die an sie gestellt werden, anpassen und sich auf diese Weise selbst funktionalisieren, bleiben Menschen in der Entfaltung ihrer Willensfreiheit ebenfalls beschränkt. Das gilt auch dann, wenn sie sich mit den herrschenden Verhältnissen arrangiert haben und von der so erworbenen Unfreiheit nichts merken und meist auch nichts wissen wollen. Wer also wirklich möchte, dass Menschen frei werden, müsste sich um die Schaffung von Lebensbedingungen bemühen, die eine Herausformung souveräner und authentischer Persönlichkeiten ermöglichen. Die Beseitigung oder Überwindung von Zwängen, Abhängigkeiten und Vorschriften wäre die Voraussetzung dafür, dass Menschen die Fähigkeit erlangen, sich anstatt gegen etwas für etwas entscheiden zu können. Es geht also darum, nicht von etwas, sondern für etwas frei zu werden, d.h. aus dieser Freiheit heraus Verantwortung zu übernehmen.
In Wirklichkeit existiert ja kein Mensch für sich allein. Jeder Mensch ist eingebunden in eine Welt, die er braucht, um zu überleben. Und jeder Mensch ist oder war zumindest am Anfang seines Lebens auf untrennbar enge Weise mit anderen Menschen verbunden. Sonst hätte er nicht überleben können. Deshalb lässt sich die Frage, wie frei wir sind, gar nicht beantworten, wenn wir unbeantwortet lassen, wie verbunden wir sind. Es gibt keine Freiheit ohne Verbundenheit. Aber Verbundenheit ist nicht Abhängigkeit. Wir Menschen sind in der Lage, unsere Beziehungen zu anderen Menschen, ja sogar zu Tieren und Pflanzen so zu gestalten, dass wir uns mit ihnen verbunden fühlen, ohne von ihnen abhängig zu sein. Aber dazu müssten wir uns um diese anderen kümmern oder zumindest bereit sein, all das, was wir haben, mit ihnen zu teilen. Unsere Nahrung, unseren Lebensraum, unsere Aufmerksamkeit, unsere Kraft, unser Wissen, unser Können, unsere Erfahrungen. Wenn wir dazu in der Lage wären, wären wir gleichzeitig verbunden und frei. 
Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten 

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