17 März 2013

Ein Goldschmied der Worte


Kein Mensch lebt ohne Begehren, ohne Hoffnungen, und seien sie noch so klein. Aber die meisten dieser Hoffnungen werden frustriert, plötzlich zunichte gemacht oder langsam zerrüttet. Es gibt kein Entkommen. Die Umstände sind gegen uns, wir werden älter, sind nicht so begabt, wie wir wollten, bekommen die berühmte Chance nicht. Wir sind Tiere, die tagträumen. Wir wollen etwas, wollen mehr, das macht uns menschlich. Das heisst auch: Wir versagen, verlieren, verzweifeln. 
Wir wären längst vom Planeten verschwunden, wenn dies das Ende der Geschichte wäre. Wir haben Strategien gefunden, mit unserem Verlust umzugehen. Wir erobern uns den Sinn des Lebens neu, den das Leben selbst unter unseren Füssen wegzieht. Wir erzählen Geschichten.
Im griechischen Mythos, mit der Bibel, dem Anfang aller Geschichten, die wir schriftlich geerbt haben, klingt das so: Eros, Sohn der Liebesgöttin Aphrodite, ist Anarchist. Mutwillig schiesst er seine Pfeile, um unmögliche Situationen zu schaffen, weckt Begehren da, wo die Götter es nicht erlauben und verhindern und bestrafen. In manchen Versionen ist er der Bruder des Urgottes Chaos. Seine Präsenz findet sich nicht nur in Skulpturen von nackten, geflügelten Knaben, sondern in der Form der griechischen Tragödie: Eine in sich ruhende Situation wird durch Begehrlichkeiten aller Art gestört (Krisis), eskaliert in Gewalt und Schrecken (Katastrophe) und wird endlich wieder schmerzhaft ins Lot gebracht (Katharsis). 
Klassische Geschichten haben Anfang, Mitte und Ende. Laster wird bestraft und Tugend belohnt. Besonders das ist wichtig, noch heute, in Hollywood. Wenn man etwas wirklich will, mit ganzem Herzen, dann verdient man es einfach und wird es bekommen, auch wenn der Preis hoch ist. Amor vincit omnia. Geschichten gehören zu unserer kulturellen DNA, vielleicht sogar zu unserer biologischen. 
Geschichten sind überlebenswichtig für uns, gerade weil sie unserem Leben nicht entsprechen. Weil sie Sinn, Struktur und Regeln dort hineinprojizieren, wo sie eigentlich nicht bestehen. Dadurch, durch den Akt des Erzählens, schaffen sie neue Möglichkeiten, neue Realitäten. (...) Nur dadurch haben wir den Mut, uns neuen Risiken auszusetzen, und nur dadurch wird es möglich, dass manche Geschichten tatsächlich gut ausgehen.
Philipp Blom, Eros geht Shoppen, in: DAS MAGAZIN N° 10, 2013


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