29 November 2012

Zeit des Mythos (Tales about Time VI)


"Die mythische Welt ist voller Bedeutung. Götter sind nichts anderes als unvergängliche Bedeutungsträger. Sie machen die Welt bedeutsam, bedeutungsvoll, ja sinnvoll. Sie erzählen, wie Dinge und Ereignisse zusammen hängen. Der erzählte Zusammenhang stiftet Sinn. Die Erzählung macht aus nichts Welt. Voller Götter heisst voller Bedeutung, voller Erzählung. Die Welt ist lesbar wie ein Bild. Man braucht den Blick nur hin und her wandern zu lassen, um den Sinn, die sinnvolle Ordnung aus ihm herauszulesen. Alles hat seinen Platz, d.h. seine Bedeutung in einer fest gefügten Ordnung (cosmos). Entfernt sich ein Ding von seinem Platz, so wird es zurechtgerückt. Die Zeit richtet es. Zeit ist Ordnung. Zeit ist Gerechtigkeit. Verschiebt ein Mensch eigenmächtig die Dinge, so vergeht er sich. Die Zeit sühnt sein Vergehen. So stellt sie die ewige Ordnung wieder her. Sie ist gerecht (diké). Ereignisse stehen in einer festen Beziehung, in einer sinnvollen Verkettung. Kein Ereignis darf aus ihr ausscheren. Jedes Ereignis spiegelt die unvergängliche, unveränderliche Substanz der Welt wider. Hier finden keine Bewegungen statt, die zur Veränderung der gültigen Ordnung führen würden. In dieser Welt ewiger Wiederkehr hätte die Beschleunigung überhaupt keinen Sinn. Sinnvoll ist nur die ewige Wiederholung des Selben, ja die Reproduktion des Gewesenen, der unvergänglichen Wahrheit. So lebt der vorgeschichtliche Mensch in einer dauernden Gegenwart." 
Byung-Chul Han, Duft der Zeit


»La lutte elle-meme vers les sommets suffit à remplir un coeur d'homme. Il faut imaginer Sisyphe heureuxAlbert Camus, Le Mythe de Sisyphe 

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