22 November 2012

Un-Zeit (Tales about Time III)



"Die Imaginationen von Berlin als Stadt des Tempos fliessen auch in den Film Berlin - Die Sinfonie der Grossstadt von Walter Ruttmann ein, der mit dokumentarischen Bildern einen Tag im Leben der Stadt Berlin und ihrer Bewohner zeigt. Entgegen der postulierten Objektivität, mit der der Film die urbane Wirklichkeit abzubilden vorgibt, greift Berlin hochgradig auf den Topos des 'Tempos', wie er für den Berlin-Diskurs seiner Zeit bestimmend war, zurück. Die Inszenierung dieses 'Tempos' geschieht dabei auf zwei Ebenen, einer technisch-formalen und einer inhaltlichen Ebene. Auf der technisch-formalen sorgt besonders der Einsatz der Montage für eine Steigerung des Filmrhythmus, was durch die Filmmusik von Edmund Meisel entscheidend verstärkt wird. Auf inhaltlicher Ebene bildet der Film die Erfahrungen einer beschleunigten Lebenswelt ab, die Hektik und den maschinellen Charakter des Arbeitslebens und in besonderem Masse der Geschwindigkeit des grossstädtischen Verkehrs. Allerdings bleibt der Film nicht bei der blossen Darstellung dieser Erfahrungen stehen, wie es von vielen Kritikern bemägelt wurde, die den Film nur als unkritische Apotheose des Tempos verstanden. Vielmehr bezieht er kritisch Stellung zu den negativen Auswirkungen der Beschleunigung für den Menschen, indem er die sozialen und individuellen Folgen eines erhöhten Lebenstempos darstellt. Dies geschieht besonders durch das Leitmotiv der Spirale, die für eine Überforderung des Individuums durch das grossstädtische Tempo steht. Indem Berlin - Die Sinfonie der Grosstadt gleichzeitig als Apotheose und Kritik des Tempos verstanden werden kann, wird der Film zum Ausdruck einer tiefen Ambivalenz gegenüber einer wesentlich durch Beschleunigung gekennzeichneten Moderne."
Thomas Neumann, Tempo und Tempokritik 




"Zu diesem neuartigen vom jüngsten Zeitgeist erfüllten Film eine aus dem heutigen täglichen Leben geborene, ernst und eifrig uns allen nachempfundene Lautbarmachung zu schreiben, habe ich als meine Aufgabe betrachtet. Wenn Sie Ihre täglichen Eindrücke erkennen in meiner Wiedergabe, wenn Ihre Nerven mitschwingen im Rhythmus meiner Musik, kann ich meine Aufgabe als gelöst betrachten." 


"Die Beschleunigung von heute hat ihre Ursache ebenfalls in der allgemeinen Unfähigkeit, zu schliessen und abzuschliessen. Die Zeit stürzt fort, weil sie nirgends zum Schluss und zum Abschluss kommt, weil sie von keiner temporalen Gravitation gehalten wird. Die Beschleunigung ist also der Ausdruck eines temporalen Dammbruches. Es existieren keine Dämme mehr, die den Fluss der Zeit regeln, artikulieren oder rhythmisieren, die die Zeit halten und verhalten können, indem sie ihr einen Halt geben, einen Halt in seinem schönen doppelten Sinne. Wo die Zeit jeden Rhythmus verliert, wo sie halt- und richtungslos ins Offene verfliesst, verschwindet auch jede rechte oder gute Zeit." 
Byung-Chul Han, Duft der Zeit

Siehe auch: Sinfonie und Rhythmus, Quelle: Arte

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