17 Januar 2022

Tag 1: Der letzte Tag

Wenn heute mein letzter Tag wäre, auf dieser wunderbaren Erde, in dieser wundersamen Existenz, wäre ich in die richtige Richtung gegangen, aber nicht am Ziel angekommen. Ich hätte erfahren, wer ich bin, hätte mich jedoch nicht verwirklicht. Ich hätte irrsuchend den einen Weg beschritten, doch hätte er mich nicht zu Ende getragen. Noch nicht.

Wenn heute mein letzter Tag wäre, hätte es viele Momente des kostbaren Glücks und Unglücks gegeben, grosse wie kleine, und diesen gelebten Erinnerungsschatz könnte mir niemand je nehmen. Leicht ist stets nur das ungelebte Leben. In ‘Die Kehrseite des Himmels’ schrieb die grosse russische Schriftstellerin und Humanistin Ljudmila Ulitzkaja unlängst: «Aus dem ungeschriebenen Gesetz der Verflechtung von allem mit allem folgt auch dies: Der Reichtum eines einzelnen Menschenlebens hängt davon ab, wie viele Fäden dieser Mensch festhalten kann. Die gesamte menschliche Kultur ist nichts anderes als ein gigantisches Geflecht aus Myriaden von Fäden, in dem genau so viele bewahrt werden, wie Du selbst festhalten kannst.»[1] 

Ich habe viele Fäden gesponnen, in meinem Kopf und in meinem Herzen, war zeitlebens eine strebsame Erforscherin des Menschen und seiner Welt. Ich bin weit gekommen, zu Fuss wie auch im Geist. Wenn ich heute sterben würde, ich hätte diesen wunderbaren Planeten noch nicht zu Ende bereist und so vieles, was ich sehen wollte, noch nicht gesehen. Ich hätte den Menschen noch nicht zu Ende studiert. Aber ich hätte die Knospen von Blüten gesehen, kurz bevor sie sich öffnen. Blätter in diesem einen zeitlosen Augenblick im Frühling, kurz bevor sie sich entfalten. Alles wäre angelegt gewesen: kurz vor dem Erblühen. Sofern es mir gegeben ist, werde ich heute nicht sterben, auch nicht morgen; und stattdessen der prachtvollen Entfaltung beiwohnen in den Sommerjahren, die noch folgen.  



[1] Ljudmila Ulitzkaja, Die Kehrseite des Himmels, München 2015

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