04 Juni 2014


"(...) unter rein professionellen Gesichtspunkten würde ich sagen, dass es viele wahre Geschichten gibt, die ich im Privaten gern erzähle, aber aus Faulheit nicht aufschreibe, bis sie zu fiktiven Geschichten herangereift sind. Der Unterschied zwischen einer wahren und einer fiktiven Geschichte besteht in den Augen der meisten Leser darin, dass letztere Erfundenes enthält, aber im Bosnischen ebenso wie in anderen slawischen Sprachen existiert dieser Unterschied nicht. Wir unterscheiden zwischen Wahrheit und Unwahrheit, nicht jedoch zwischen Fiktion und Nichtfiktionalem, und auch mein eigenes unstillbares Verlangen, Geschichten zu erzählen, hat im Grunde weniger mit diesem Unterschied zu tun als mit der Notwendigkeit, mein eigenes Leben erzählerisch umzusetzen. Ich muss mein eigenes Leben erzählen, aber auch das von anderen Menschen, jede Art von Erfahrung, um mir die Welt verständlich zu machen. Mir ergeht es im Leben wie mit meinen Alpträumen, aus denen ich regelmässig aufwache, wenn der Traum in einer Sackgasse endet - in einer Situation, aus der es im Traum keinen Ausweg gibt, so dass er unvollständig bleibt. Auch im Leben ist Erfahrung für mich so lange unvollständig, bis ihre erzählerische Umsetzung real geworden ist. Um die Realität intellektuell erfassen zu können, muss man sie imaginieren und alle Lücken oder blinden Flecke der Erkenntnis mithilfe der Vorstellungskraft füllen."
 
Aleksandar Hemon im Gespräch, in: NZZ Dienstag, 22.04.2014

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