15 September 2013

High Hopes


Mit 16 kann man durchaus Schopenhauer lesen, das ist nicht so selten. Vielleicht hat es mir geschadet, aber es war ein lebensveränderndes Erlebnis. Deswegen habe ich später Philosophie studiert. Schopenhauer ist der literarischste unter den grossen Philosophen. Philosophieprofessoren hören so eine Überlegung nicht gern, aber ich habe heute noch Momente, wo ich mich frage, ob es sein kann, dass Schopenhauer in allem Recht hat. Für ihn ist die Welt, wie wir sie wahrnehmen, Einbildung und Illusion, ein grosser Traum. Mein neuer Roman hat auch viel mit Schopenhauers Aufsatz über die anscheinende Absichtlichkeit im Leben des Einzelnen zu tun. Schopenhauer stellt da die Frage, ob wir unser Leben komponieren, oder ob es uns nur passiert. Er kommt zu der Antwort, mit unserem Leben sei es wie mit unseren Träumen. Dort passieren uns angstmachende Dinge, die wir absolut nicht erleben wollen. Und doch kommt alles, was uns im Traum zustösst, letztlich von uns selber, denn wir träumen es ja, es kommt aus uns, wir erfinden es. So, sagt er, sei es auch im Leben. Alles, was uns zustösst, habe innere Logik, bestimmt nicht von Gott, sondern von uns selbst. Die Frage, ob das stimmt, hat mich seit meiner Jugend nie mehr losgelassen.
Daniel Kehlmann in: Süddeutsche Zeitung Magazin N° 35, 2013


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