14 Juli 2013

Gefühlswelten: Heimatlosigkeit


Heimatlosigkeit ist der existenzielle Gemütszustand, in dem wir uns als Fremde in unserer Umgebung fühlen. Wir fühlen uns fehl am Platz, wir wollen fort und glauben, dass wir einem anderen Ort angehören, ohne zu wissen, welchem. Heimatlosigkeit ist inzwischen zur allgegenwärtigen Befindlichkeit der globalen Moderne geworden, doch fehlt ihr ein Wort, mit dem wir ihre moralische Bedeutung begreifen könnten. Vielleicht verfolgen uns jene unbenannten und unbenennbaren Gefühle gerade deswegen so hartnäckig, weil wir nicht wissen, wie wir sie mit unserem Bewusstsein erfassen sollen. Sie bedürfen unbedingt der Literatur, denn nur Geschichten können uns helfen, das Namenlose zu begreifen.
Seltsamerweise gibt es für das Gegenteil von Heimatlosigkeit auch kein Wort. Auf der philosophischen Ebene beinhaltet heimisch zu sein, oder im Sinne Heideggers, einen Ort zu bewohnen ein unreflektiertes Verhältnis zu diesem Ort. So handeln wir im Alltag nach eingeschliffenen Mustern, über welche wir nicht mehr nachdenken. Sich in der Welt heimisch zu fühlen, die man bewohnt, setzt ein gewisses gedankenloses Verhältnis zu dieser Welt voraus. Hubert L. Dreyfus, ein zeitgenössischer Philosoph, hat Heideggers Gedanken treffend zusammengefasst: "Wenn wir etwas bewohnen, ist es für uns kein Objekt mehr, sondern wird zu einem Teil von uns und prägt unsere Beziehung zu anderen Objekten um uns herum." Heimisch zu sein in der Welt bedeutet, sie nicht als etwas von uns Getrenntes zu sehen, sie nicht als Objekt wahrzunehmen. Nur wenn sie verloren ist, wird die Heimat sichtbar, ein Objekt, das sich unserem Griff entzieht.
Eva Ilouz, Heimatlosigkeit, in: Grosse Gefühle V, DAS MAGAZIN N° 26


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