01 April 2013

Musterbrecher II


Und wenn es die Erwachsenen nicht schaffen, dann schaffen es ihre Kinder. Zur Not dadurch, dass sie einfach nicht so funktionieren, wie die Erwachsenen sich das wünschen und wie es erforderlich wäre, damit die Welt der Erwachsenen so bleiben kann, wie sie ist. Wenn unsere Kinder nicht mehr bereit oder imstande sind, all das zu übernehmen und weiterzuführen, was wir in unserem Kulturkreis an Kulturleistungen geschaffen haben - und dazu zählen eben auch unsere bisherigen Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt, und die von uns zur Umsetzung dieser Vorstellungen geschaffenen Organisations- und Verwaltungssysteme -, dann geht es nicht mehr so weiter wie bisher. 
Dann verliert das, was bisher bedeutsam war, seine Bedeutung. Dann wird für diese nachwachsende Generation etwas anderes bedeutsam. Etwas, was für uns bisher unbedeutsam war. Dann beginnen unsere Kinder sich für anderes zu begeistern und sich über anderes zu freuen als wir, und dann bekommen sie auch ein anderes Gehirn. Und mit dem sind sie weder bereit noch in der Lage, in selbstgebauten Hamsterrädern weiterhin so gut herumzurennen wie wir. 
Das ist es, was die Biologen meinen, wenn sie das Leben als einen sich selbst organisierenden und sich selbst optimierenden Prozess beschreiben. Solange es Leben gibt, erzeugt jede Lebensform durch ihre eigenen Aktivitäten einen sich zwangsläufig verändernden Lebensraum, an den sich nachfolgende Generationen anpassen. Und indem sie das tun, verändern sie wiederum die Lebensbedingungen für ihre Nachkommen in einer bestimmten Weise. Dieser transgenerationale Selbstorganisationsprozess kann durch Einflüsse von aussen modifiziert und in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Aber er bleibt immer ein sogenannter autopoietischer Prozess, ein Prozess, in dem jede Lebensform sich selbst fortwährend weiter gestaltet, oder poetischer ausgedrückt: sich selbst immer wieder neu erfindet. 
Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten 


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