11 April 2013

Gefühlswelten: Enttäuschung


Im Vergleich zu vielen erheblich dramatischeren Gefühlen wird die Enttäuschung in Moll gespielt. Die Hitze der Eifersucht, die Heftigkeit der Wut, die Dringlichkeit des Hasses - all das fehlt ihr. Enttäuschung ist ein kleines, leicht verbittertes Gefühl, das sich in den Zwischenräumen unseres Lebens einnistet. Wie Läuse im Haar ist sie winzig und kaum sichtbar, und doch beeinträchtigt sie uns so sehr, dass sie uns Ruhe und Frieden raubt. Mehr noch: Dieses winzige Gefühl fasst das Elend der Condition moderne zusammen. Und genau deswegen ist es das Gefühl, das einem der bittersten Tode der modernen Literatur anhaftet, dem von Madame Bovary.   
Emma Roualt (die künftige Madame Bovary) ist jung, schön, kann Klavier spielen und hat eine Menge Romane gelesen. Sie heiratet einen gutherzigen Landarzt, Charles Bovary, dem jeglicher Ehrgeiz fehlt, doch der sie liebt und die Achtung seiner Mitbürger geniesst. Für Charles ist die Welt in Ordnung, wenn er nach einem langen Arbeitstag heimkehrt, das Abendessen, das sie zubereitet hat, verspeist, die Zeitung liest und anschliessend eindöst. Charles gehört zu jenen Zufriedenen, deren Träume nicht über das hinausgehen, was sie haben. Doch obwohl Emma alles hat, was sich die Gattin eines Landarztes nur wünschen kann, sehnt sie sich nach einem anderen Leben. Ihre Träume lassen ihren Mann und dessen gesellschaftliches Milieu weit hinter sich. Wie sie Léon, einem ihrer heimlichen Liebhaber, in einem Akt unbewusster Selbstdefinierung anvertraut: "Wenn Sie wüssten, was ich mir alles erträumt hatte!"
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Es wird oft behauptet, die Moderne habe allumfassender Rationalität und kühlem Berechnungsgeist Vorschub geleistet. Dieser wird in Flauberts Roman von dem Apotheker Homais verkörpert, dem eitlen Rationalisten, der stolz an Vernunft und Wissenschaft glaubt und bei allen Missgeschicken, die den Protagonisten des Romans widerfahren, letztlich als der eigentliche Gewinner dasteht. Doch ist Emma nicht weniger modern als Homais, denn die Moderne hat grenzenlose Tagträumerein und Schwärmereien freigesetzt, ein Sehnen nach anderen, höheren, besseren, aufregenderen Formen des Lebens, genährt durch Massenkultur, Romane, Zeitschriften, Werbung und, im 20. Jahrhundert, durch Film, Fernsehen und das Starsystem von Musik, Mode und Kino. Ohne solche Träume und Sehnsüchte gäbe es keine Konsumkultur. Und um Verlangen - sowohl nach Liebe als auch nach Luxus - geht es ja im Grunde bei Madame Bovarys wiederholten Enttäuschungen, weil die aufkommende Konsumkultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit geschaffen hat, sich das Leben anderer auszuleihen und damit das eigene gesellschaftliche und emotionale Format aufzubessern. Konsumkultur schafft die Fähigkeit - vorübergehend -, in diese oder jene bedeutendere Identität zu schlüpfen, diese oder jene gefühlstiefe, märchenhafte Geschichte zu leben. Rodolphe, der Grundbesitzer, in den Emma sich hoffnungslos verliebt, präsentiert sich genau auf diese modernste aller Arten: "Ach, immer diese Pflichten, was ödet es mich an, dieses Wort. (...) Unsere Pflicht ist es, das Grosse zu empfinden, das Schöne zu lieben, und nicht, sich allen Konventionen der Gesellschaft zu unterwerfen, mit all den Niederträchtigkeiten, die sie uns auferlegt." Mit Ausnahme von Rodolphe gehören alle Figuren in Flauberts Roman der Mittelschicht an, und die Mittelschichten haben per Definitionem keine Gewissheit über ihren Status, hegen Ambitionen auf gesellschaftlichen Aufstieg und, wie in Emmas Fall, versuchen, diese Ambitionen durch Luxusgegenstände und die emotionalen Erwartungen auf ein Leben jenseits von Zwängen und des Gewöhnlichen zu erfüllen, also ein adeliges und edles Leben. Enttäuschung ist somit nicht eine Frage der Erkenntnis: Bei ihr geht es nicht um den Konflikt zwischen falschen Erwartungen und der Wirklichkeit. Es geht um die Schwierigkeit, das eigene gesellschaftliche Format zu akzeptieren.
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Doch hätte Flaubert uns nur die kitschige Leere von Emmas Träumen und die Eitelkeit ihrer Enttäuschungen zeigen wollen, hätte er nicht gleich auf den ersten Seiten des Romans derart sorgfältig die Mediokrität von Charles' Wesen mit erzählerischer Distanz und Ironie beschrieben. Tatsächlich werden uns von Anfang an kleinbürgerliche Figuren gezeigt, die vielleicht ehrlich und gutherzig sind, aber auch konformistisch, im Wesentlichen gekennzeichnet durch ihr Bedürfnis nach hohler Achtbarkeit. Emmas kitschige Fantasie und ihre Enttäuschung sind nichts weiter als ein Versuch, diese sehr reale und überwältigende Leere zu füllen. Unerträglich wird die Moderne somit dadurch - und in Emmas Selbstmord und der Qual ihres Lebens und ihres Sterbens zeigt sich, was in der Moderne unerträglich ist -, dass sie unentwegt den Horizont aufregender und verbotener Leben eröffnet, unser Ich aufbläht, unsere Erwartungen schürt, uns dabei aber auf Lebenswege leerer und banaler Achtsamkeit wirft. Gegen Flaubert bitte ich um Mitgefühl für Emma: Sie ist die Heldin, deren namenloses Sehen jener unerträglichen Banalität nicht zu entkommen vermag.
Eva Illouz, Enttäuschung, in: Grosse Gefühle III, DAS MAGAZIN N° 14. 

Als Appetithappen nicht vorenthalten möchte ich Miss Havishams Trailer. 

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