13 Februar 2013

Gesetz der Gewalt (Serien II)


Gegenwärtig befinde ich mich in einem 'Southland'-Serienmarathon (für die, die es nicht wissen sollten: 'Southland' ist eine der unzähligen amerikanischen Copserien - allerdings eine der realistischeren, schwarzweissmalerische Plotkliffe umschiffenden Sorte). Und während ich schauend das Leben und Dienen fiktiver Cops in L.A. plastisch mitverfolge, ertappe ich mich des Öfteren bei folgender Frage: was hat es mit diesem Sub-Genre des Law-and-Order-Serienkosmos auf sich, dass ich mit schöner Regelmässigkeit bei ihm lande? Für eine plakative Antwort werde ich mich sogleich der besten aller Copserien zuwenden, die es hierzulande nach einem frühen Quoten-Aus bezeichnenderweise erst mit einem guten Jahrzehnt Verspätung in die nachmitternächtliche Free TV-Verbannung geschafft hat: ich spreche selbstverständlich von 'The Shield' und dem myriadischen Meer an Grautönen, mit dem diese Produktion aus dem Hause FX unseren inneren Kompass traktiert.


Der Schlüssel zum Verständnis aller sozialen und individuellen menschlichen Vorgänge liegt im Modellbegriff der Emergenz. Deshalb wird man Menschen und den von ihnen ausgehenden zwischenmenschlichen Systembildungen kein Verständnis abringen, indem man sie in ihre Einzelteile zerlegt; bei näherer Betrachtung lässt jede feinsäuberlich gezogene Analyse alle Einsicht disparat im Keim ersticken. Menschen wie ihre Systeme bilden ein sich lebend entwickelndes 'Mehr' dessen, was gemeinhin für ihre Bestimmung zu Rate gezogen wird: in ersterem Fall kulturelle Rahmenbedingungen, Lebensumstände, Herkunftsmilieu, Geschlecht, Erziehung, (Berufs-)Habitus. Entsprechend wird ein einzelner Faktor nie das Gesamtsystem Mensch oder Gesellschaft oder auch nur eine einzelne Tat erklären, vielmehr müssen selbige gleichsam durch ein perspektivisches Kaleidoskop betrachtet und in mühseliger Puzzlearbeit in komplexe Verhältnisse zueinander gesetzt werden. Oder wie Jonas Lüscher kürzlich in einem überaus klugen Interview im Tages-Anzeiger auf die Nachfrage hin, inwiefern es vonnöten sei, dass wir viele Geschichten hören oder lesen (respektive in diesem Fall sehen), präzisierte: dies sei daher relevant, weil es die Stärke der Narration ist, dass sie sich um das Besondere, den Einzelfall kümmert, und wir dadurch die "besonderen Einzelfälle in Bezug zu anderen besonderen Einzelfällen setzen können und so nach und nach ein dichtes Netz weben und damit ein hilfreiches Verständnis gewisser Gegenwartsprobleme mit einer sozialen Dimension erlangen." Eine mathematische, quantitative Beschreibung eines Problems betrachte dagegen in umgekehrter Weise den Mittelwert und "das Allgemeine als das Reale und das Einzelne, Besondere und Zufällige als vernachlässigbare Nebensache"; das derart durch Abstraktion gewonnene Gesetzmässige, Universale, Durchschnittliche erweise sich letztlich aber als lediglich behelfsmässige Konstruktion, die zwar der abgekürzten Verständigung diene, jedoch nicht das eigentlich Wirkliche betreffe. Respektive (in eigenen Worten zugespitzt) im Kern erfasse.
Den Kernaspekt von 'The Shield' - um damit auf die deskriptive Ebene zu wechseln - bildet Vic Mackey: zwielichtig irrlichternder Hauptprotagonist und Kopf des sogenannten Strike Teams, einer Spezialeinheit gegen organisierte Bandenkriminalität, deren zweifelbehafteter Verdienst es ist, die Kriminalitätsrate im Bezirk tief zu halten - zum Preis von Vorschriftsübertretungen, Bestechungen, Erpressungen, Drohungen, Misshandlungen und Unterschlagungen von Drogengeldern, welche die eingeschworenen Mitglieder des Strike Teams unter sich aufteilen. Im Zweifelsfall schrecken die Mannen mit der Polizeimarke selbst vor Raub und Mord nicht zurück, wohlgemerkt: auch untereinander nicht. Das Seriengeschehen setzt zu einem Zeitpunkt an, als die fragwürdigen Methoden des Teams dieses in einem anschwellenden Strudel von Gewalt einzuholen beginnen, so dass wir uns quasi von Beginn weg in einer kaskadeartigen Abwärtsspirale wiederfinden, von der wir alsbald glauben, dass sie sich nicht mehr weiter nach unten drehen kann. Und werden in der Folge über sieben glänzend choreografierte Staffeln lang eines Besseren belehrt. Gewalt, so das retrospektive Fazit, gehorcht einem inneren Gesetz, das ihre Eskalation in bestimmte, vorgezeichnete Bahnen zwingt. 


Was sich in dieser überblicksartigen Darstellung nun etwas simpel nach einer schlichten Umkehr des Bad Guy-Konzeptes anhört, erweist sich am Ende als so einfach nicht: dies wird an der Figur des Vic Mackey veranschaulicht. Im Glauben, dass der höhere Zweck der Verbrechensbekämpfung jedes Mittel heiligt, stiehlt er Drogen sowie aus deren Verkauf erzieltes Blutgeld, greift gegenüber Verdächtigen nahtlos zu handgreiflichen Argumenten, wo routinemässige verbale Übergriffe versagen, und scheint bei alldem nicht zu bemerken, wie das Gift des bösen Tuns allmählich auch in sein Privatleben sickert, wo er zunehmend derselben menschlichen Ursünde wie im Berufsalltag erliegt: der Hybris. Und doch ist dieser machiavellistisch manipulierende, lügende, folternde, tötende und seitenspringende Vic, der einer Welt des regierenden Chaos eine Ordnung eigener Güte aufzuzwingen versucht, zugleich liebender Ehemann und treusorgender Vater zweier autistischer Kinder sowie loyaler Vorgesetzter seiner Teamkollegen (dies wenigstens zu Beginn), oder vereinfacht gesagt: eine von (Selbst-)Zweifeln und Alltagsnöten geplagte und aus Eigenperspektive nach bestmöglichem Kontextwissen handelnde Seele - das gesetzeshütende Pendant zu Tony Soprano, wenn man so möchte. Dass ihm sein Gewissen bisweilen anderes einflüstert, steht auf einem anderen Blatt, und so besteht seine eigentliche Tragödie folgerichtig darin, dass er am Ende alles verloren haben wird, was ihm einst lieb und teuer war: Arbeit, Freunde, Familie, und nicht zuletzt: Ansehen. Zwar wird er sich mit einem letzten Coup Immunität bei den Bundesbehörden verschaffen und somit dem allzeit pendenten Damoklesschwert einer juristischen Verurteilung entgehen, doch muss er dafür einen bedeutungsschweren Verrat begehen und sich in der Folge mit einem verhassten Schreibtischjob begnügen - umgeben von Kollegen, die über seine Machenschaften im Bild sind und ihn für diese zutiefst verachten. Michael Chiklis hat dem zwiegespaltenen Anti-Helden Vic neben bestechenden Gastauftritten von Schauspielgrössen wie Glenn Close und Forest Whitaker ein derart menschliches Gesicht verliehen, dass ihm dafür je ein Emmy und ein Golden Globe zuteil wurde (die Produktion selbst gewann für die erste Staffel 2002 einen Golden Globe als beste Serie in der Kategorie Drama). Als Zuschauer kommen wir nicht umhin, mit und an ihm zu leiden. 
Und so möchte ich mich zu Illustrationszwecken abschliessend abermals einer Bemerkung von Jonas Lüscher anschliessen, wonach der unbedingte Wunsch nach Klarheit gelegentlich einer sozialen Analyse abträglicher ist als künstlerische Schönheit. Letztere liegt bei 'The Shield' darin, ungeschönt in die Abgründe eines Menschen vorzudringen, der sein Leben eigentlich dem Zweck gewidmet hat, dem abgründigen Handeln anderer entgegenzuwirken: als äusserster Schutzschild der Gesellschaft gegen das Verbrechen. Mit Betonung auf: eigentlich. Denn wie so oft gibt auch in 'The Shield' der Mensch nicht mit Worten Antwort auf die Frage nach seinem Lebenszweck, sondern mit Taten, ja: mit seinem Leben (letzteres frei nach Sándor Márai in 'Die Glut'). 


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