30 Januar 2022

Tag 13: Innehalten

Du wirst in vielem irren. Wenn Du Dich entschliesst, Dein Leben bewusst zu leben, wirst Du notwendig Fehler begehen. Das Ziel liegt weder darin, fehlerlos zu bleiben, noch fehlerlos zu werden, sondern Dir Klarheit darüber zu schaffen, wie tief Du geprägt bist von Mustern. Indem Du Fehler begehst und Dich dabei beobachtest, wirst Du Dir dieser Muster bewusst. Weil es eine Unzahl von ihnen gibt, bleibt wenig Zeit, um Dir dazwischen eine tröstende Hand auf die Schulter zu legen. Nimm sie Dir dennoch, bevor Du die Bandagen festziehst.

Es wird dauern, bis Du Dich aufs Beobachten verstehst. Der Strudel Deines Alltags wird Dich anfangs zu oft noch besinnungslos in die automatisch geschalteten Schlaufen Deines Fühlens, Denkens und Handelns ziehen. Diese Schaltkreise sind mächtig, und sie sind fest in Dir verankert. Sie wurden in jahrzehntelangem Feintuning sorgsam verdrahtet, weshalb Du allein mit reinem Willen nicht gegen sie bestehen kannst. Du wirst stattdessen Langmut brauchen. Das schiere Ausmass dieser Sisyphusarbeit wird Dich bald schon daran zweifeln lassen, ob Du Dich je in der Lage wiederfinden wirst, Deiner getriggerten Gefühle, Gedanken und Handlungen gewahr zu werden, Herrin zu werden. Die Wut, die urplötzlich rasend durch Deine Drähte glüht, wenn jemand Deine kaum verborgenen Schalter findet. Die müssige Traurigkeit, wenn der Blick in die Welt einmal mehr Dein Netz zum Erliegen bringt. Dein aufblinkender Neid, wenn fremde Erfolge Dich blenden, jene Meilensteine, die Du selbst noch nicht erreicht hast und vielleicht nie erreichen wirst. Erlaube, dass diese Muster wiederholt auf Dich einwirken. Vielleicht erhascht Du sie zunächst nur flüchtig im Vorbeigehen, gleichsam aus dem Augenwinkel, und kommst erst bei einer weiteren Begegnung dazu, sie eingehender zu studieren. Und erst nach vielen solchen Begegnungen erkennst Du sie endlich als das, was sie sind. Zu oft verheimlichen wir unsere Muster vor uns selbst, weil wir uns ihrer schämen, und richten unseren Blick stattdessen nach aussen. Wut wird so zu dem, was andere Dir angetan haben, Depression zu dem, was die Welt Dir angetan hat. Und Neid wird zu dem, was das Schicksal Dir stetig vorenthielt. 

Während wir fortwährend nach aussen blicken, verdichten sich unsere Muster nach und nach zu unserem Schatten. Doch irgendwann stellst Du fest, dass es nicht darum geht, gegen Schatten zu boxen. Das ist der Tag, an dem Du das Handtuch wirfst und beginnst, Deinem Schatten mit achtsamen Respekt zu begegnen. Fortan zeigt er sich Dir gewissenhaft und unermüdlich in allem, was Du über andere denkst, in Deinen vielen Widersprüchen in Wort und Tat, sowie in den fruchtlosen Vorsätzen und unnützen Ratschlägen, die Du selber nie beherzigt hast. Und er begegnet Dir in Deinen Träumen. Schau genau hin, auch wenn es Dich kostet; denn Du bist soeben dem wichtigsten Lehrmeister begegnet, den Dir das Leben je an die Seite stellen wird. Und wenn Du schliesslich all Deine Schaltkreise blind kennst und die dahinterliegenden Glaubenssätze benennst, wirst Du Deine Aufmerksamkeit vermehrt verlagern: hin zur Pause. Die Pause liegt zwischen Deinen Atemzügen, und sodann zwischen Deiner Wahrnehmung und dem Fühlen, und dem Denken, und dem Handeln. Sie ist kurz und flüchtiger noch als Deine Muster. Kultiviere die Pausen in Deinem Leben und achte auf die Kette, die Deine Gedanken mit Deinen Worten und Taten verbindet, denn man sagt ihr nach, dass sie Deinen Charakter und somit auch Dein Los bestimmt.[1] Beginne mit schwierigen Dingen: der bewussten Rast, wenn Dich der ständige Sog der Vorwärtsbewegung rückwärts taumeln lässt. Dem Verharren in der Gegenwart, wenn die unstete Planung Dich vorwärts in die Zukunft reissen will, oder die stetige Reue hinab in den Strudel der Vergangenheit. Lass Dich nicht pausenlos fortziehen, verweile etwas länger noch im Hier und Jetzt, denn nur im Hier und Jetzt wird dieser Kampf, der keiner ist, gewonnen. Lass Körper und Atem Deine Anker werden.  

Zuletzt wird Dir klar, dass es nie die Bandagen des Boxers waren, die Du brauchtest, sondern der Handschuh des Bogenschützen. Die Stille findet Dich dort, wo Du zum Schuss bereit bist. Und selbst zum Pfeil wirst. 



[1] «Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheit. Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter. Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.» Ungesicherter Ursprung; wird oft als Talmud-Zitat ausgewiesen, geht aber womöglich auf ein chinesisches Sprichwort zurück.

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