Ob Du es weisst oder nicht, Du trägst eine Rüstung. Du trugst sie nicht bei Deiner Geburt, nicht im ersten Lebensjahr und vermutlich auch noch nicht im zweiten. Aber schon im dritten, als man Dir beibrachte, was gut ist und was schlecht in dieser Welt, begann sie sich auszubilden. Wie ein schwarzer Panzer auf Deiner Haut.
Dieser Panzer wuchs, und wucherte. Er streute zu jenem Teil von Dir, den Du so unbedingt schützen wolltest: zu Deinem Herzen. Sie haben Dir gesagt, dass Du so, wie Du bist,
nicht gut genug bist, mit Taten wie mit Worten. Sie haben Dich gelehrt, dies oder jenes zu sein, ohne
Dich überhaupt je in den Blick genommen zu haben, in Deinem ureigenen Sein. Sie
haben von Dir verlangt, dass Du dieses Spiel, das wir alle zeitlebens spielen,
mitspielst. Fall nicht auf, sagten sie, aber leiste. Sei kein Feigling, sagten
sie, sondern schlag zu. Weine nicht, sagten sie. Du darfst Deine
Tränen nicht zeigen, doch wandle sie um in scharfe Waffen. Und dann schiess zurück. Was sie dabei nicht verstanden: jedes Mal, wenn Du mit den Waffen der Wut und
der Angst auf jemand anderen zieltest, hast Du sie zuallererst auf Dein eigenes
Herz gerichtet. Jedes Mal, wenn Du zurückgeschlagen hast mit einem falschen
Lächeln im Gesicht und süssen Worten auf den Lippen, hast Du Dich selbst
vergiftet. Und während Du alle diese Jahre Deines Lebens damit zubrachtest zu
leisten, was auch immer sie von Dir verlangten, zog sich Dein Herz immer mehr
ins gepanzerte Innere zurück. Nie mehr trugst Du es sorglos auf der Zunge. Alles hast
Du fein säuberlich gemessen, sondiert und abgewogen, bevor Du irgendetwas von
Bedeutung entweichen liessest. Jedes kleine Fitzelchen an Echtheit fiel Dir schwer. Und Dein Herz wurde steinern, es wurde bleiern, wurde leer:
von allen Halbwahrheiten und Lügen, Listigkeiten und Selbsttäuschungen, die
Du Dir erzählt hast.
Es ist an der Zeit, dass die Wahrheit wieder Einzug hält in
Deinem Haus. Damit aus diesem Haus ein Tempel wird. Es sollte nie eine Festung
werden, sondern ein Palast des Lichts, getragen von luftigen Säulen,
durchflutet von ewigem Wind. Zieh also Deine Rüstung aus und zerschmettere
Deine Türme. Lege alles nieder, was Dich im endlosen Kampf hielt. Das rüstige Schwert des Zwistes. Den stolzen Bogen der Anmassung. Die zahllosen Pfeile der Vermessenheit. Dein Herz ist stärker als Du denkst: in seiner vollendeten Verletzlichkeit liegt Deine wahre Waffe. Zuletzt wirst Du auch den Dolch der Lüge aus der Hand legen und beginnen, Dein Inneres nach Aussen zu
wenden. Du wirst so lange die Wahrheit sprechen, bis Deine weissen Ärmel von
ihr rot gefärbt sind; die ganze Wahrheit, die nun aus Dir quillt wie tiefes Wasser aus einem still gelegten Brunnen. Lass es geschehen. Es wird nicht ausbleiben, dass Deine Worte jene verletzen, die anderes von Dir
erwartet haben als reines Wahrsprechen. Einige werden sich fortan
von Dir abwenden, weil Du im wahrsten Sinne unberechenbar geworden bist. Du
durchschaust das Netz der verlogenen Verflechtungen, die diese Gesellschaft
fortwährend spinnt, und setzt Dich in die Ecke, wo Du alsdann Dein Seemannsgarn
wickelst. Geduldig und ohne Hast. Es wird dauern, bis Deine ganze Wahrheit
entlang Deiner Ärmel hinabgeflossen ist und Dein Garn fest auf der Spuhle
sitzt.
Und wenn Du aufhörst, vom bitteren Kelch der Geltung und Vergeltung zu trinken, den sie Dir vor langer Zeit hinstellten und den Du seitdem nie leer werden liessest, wird Deine Haut zu Deiner Rüstung. Sie
ist alles, was Du je gebraucht hast. Dein Gewand ist jetzt ganz und gar in Purpur getränkt und in Deiner Hand hältst Du die Spule, mit der Du neue Geschichten
weben wirst. Denn die Welt ist so dringend auf neue Geschichten angewiesen. Du
hast den Faden des unausweichlichen Schicksals und des selbstverursachten
Verhängnisses abgewickelt, hast dem blind waltenden Zufall getrotzt. Du weisst,
Du wirst nicht bestimmen, wie lang Dein Lebensfaden wird und wann man ihn
durchtrennt. Doch Du allein bestimmst über seine Dichte.
Unbemerkt, ehe Du Dich versiehst, gleitet etwas sachte, ganz sachte aus
dem Verborgenen ans Licht. Dein Ass im Ärmel, es war immer schon: ein Herz-Ass.
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